hör' ich gern! Komm herunter, du junger Vo¬ gel, der so artig singt!"
So brachten wir alle Tage eine Stunde zu, eh' ich zu meinem Oheim ging; wir sprachen da¬ bei über dies und jenes, ich erzählte viel von Anna und sie mußte Alles anhören und that es mit großer Geduld, nur damit ich da bliebe. Denn während ich in Anna den besseren und gei¬ stigeren Theil meiner selbst liebte, suchte Judith wieder etwas Edleres in meiner Jugend, als ihr die Welt bisher geboten; und doch sah sie wohl, daß sie nur meine sinnliche Hälfte anlockte, und wenn sie auch ahnte, daß mein Herz mehr dabei war, als ich selbst wußte, so hütete sie sich wohl, es merken zu lassen und ließ mich ihre tägliche Frage in dem guten Glauben beantworten, daß es nicht so viel auf sich hätte.
Oft drang ich auch in sie, mir von ihrem Leben zu erzählen und warum sie so einsam sei. Sie that es und ich hörte ihr begierig zu. Ihren verstorbenen Mann hatte sie als junges Mädchen geheirathet, weil er schön und kraftvoll aussah. Aber es zeigte sich, daß er dumm, kleinlich und
hoͤr' ich gern! Komm herunter, du junger Vo¬ gel, der ſo artig ſingt!«
So brachten wir alle Tage eine Stunde zu, eh' ich zu meinem Oheim ging; wir ſprachen da¬ bei uͤber dies und jenes, ich erzaͤhlte viel von Anna und ſie mußte Alles anhoͤren und that es mit großer Geduld, nur damit ich da bliebe. Denn waͤhrend ich in Anna den beſſeren und gei¬ ſtigeren Theil meiner ſelbſt liebte, ſuchte Judith wieder etwas Edleres in meiner Jugend, als ihr die Welt bisher geboten; und doch ſah ſie wohl, daß ſie nur meine ſinnliche Haͤlfte anlockte, und wenn ſie auch ahnte, daß mein Herz mehr dabei war, als ich ſelbſt wußte, ſo huͤtete ſie ſich wohl, es merken zu laſſen und ließ mich ihre taͤgliche Frage in dem guten Glauben beantworten, daß es nicht ſo viel auf ſich haͤtte.
Oft drang ich auch in ſie, mir von ihrem Leben zu erzaͤhlen und warum ſie ſo einſam ſei. Sie that es und ich hoͤrte ihr begierig zu. Ihren verſtorbenen Mann hatte ſie als junges Maͤdchen geheirathet, weil er ſchoͤn und kraftvoll ausſah. Aber es zeigte ſich, daß er dumm, kleinlich und
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hoͤr' ich gern! Komm herunter, du junger Vo¬
gel, der ſo artig ſingt!«
So brachten wir alle Tage eine Stunde zu,
eh' ich zu meinem Oheim ging; wir ſprachen da¬
bei uͤber dies und jenes, ich erzaͤhlte viel von
Anna und ſie mußte Alles anhoͤren und that es
mit großer Geduld, nur damit ich da bliebe.
Denn waͤhrend ich in Anna den beſſeren und gei¬
ſtigeren Theil meiner ſelbſt liebte, ſuchte Judith
wieder etwas Edleres in meiner Jugend, als ihr
die Welt bisher geboten; und doch ſah ſie wohl,
daß ſie nur meine ſinnliche Haͤlfte anlockte, und
wenn ſie auch ahnte, daß mein Herz mehr dabei
war, als ich ſelbſt wußte, ſo huͤtete ſie ſich wohl,
es merken zu laſſen und ließ mich ihre taͤgliche
Frage in dem guten Glauben beantworten, daß
es nicht ſo viel auf ſich haͤtte.
Oft drang ich auch in ſie, mir von ihrem
Leben zu erzaͤhlen und warum ſie ſo einſam ſei.
Sie that es und ich hoͤrte ihr begierig zu. Ihren
verſtorbenen Mann hatte ſie als junges Maͤdchen
geheirathet, weil er ſchoͤn und kraftvoll ausſah.
Aber es zeigte ſich, daß er dumm, kleinlich und
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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854, S. 70. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich03_1854/80>, abgerufen am 27.11.2024.
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