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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854.

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sie beinahe mehr Kraft und Leben verrieth, als
die breitesten Lenden. Das Gewand saß ihr
schön und sicher auf dem Leibe; sie liebte es ganz
knapp zu tragen, so daß ihre ganze Schmalheit
erst recht zu Tage trat, und doch berauschten sich
die Augen dessen, der sie sah, mehr in dieser Er¬
scheinung, als in den reichen Formen eines üppi¬
gen Weibes, und wer einer vollen Schönheit kalt
vorüberging, glaubte dies schmale Wesen augen¬
blicklich in die Arme schließen zu müssen. Auf
solchem schwanken Stengel aber wiegte sich die
wunderbarste Blume des Hauptes. In dem
marmorweißen Gesicht glänzten zwei große dun¬
kelblaue Augen und ein kirschrother Mund, und
das Rund des Gesichtes spitzte sich stark in dem
kleinen reizenden Kinne zu, und doch war dies
Kinn nicht so klein, daß es nicht noch die rei¬
zendste Andeutung einer Verdoppelung geziert
hätte. Aber der breiteste Theil der ganzen Ge¬
stalt im wörtlichen Sinne schien das große volle
Haar zu sein, welches sie krönte; die gewaltige,
tiefschwarze Last, vielfach geflochten und gewunden
und immer mit grünem Seidenbande durchzogen,

ſie beinahe mehr Kraft und Leben verrieth, als
die breiteſten Lenden. Das Gewand ſaß ihr
ſchoͤn und ſicher auf dem Leibe; ſie liebte es ganz
knapp zu tragen, ſo daß ihre ganze Schmalheit
erſt recht zu Tage trat, und doch berauſchten ſich
die Augen deſſen, der ſie ſah, mehr in dieſer Er¬
ſcheinung, als in den reichen Formen eines uͤppi¬
gen Weibes, und wer einer vollen Schoͤnheit kalt
voruͤberging, glaubte dies ſchmale Weſen augen¬
blicklich in die Arme ſchließen zu muͤſſen. Auf
ſolchem ſchwanken Stengel aber wiegte ſich die
wunderbarſte Blume des Hauptes. In dem
marmorweißen Geſicht glaͤnzten zwei große dun¬
kelblaue Augen und ein kirſchrother Mund, und
das Rund des Geſichtes ſpitzte ſich ſtark in dem
kleinen reizenden Kinne zu, und doch war dies
Kinn nicht ſo klein, daß es nicht noch die rei¬
zendſte Andeutung einer Verdoppelung geziert
haͤtte. Aber der breiteſte Theil der ganzen Ge¬
ſtalt im woͤrtlichen Sinne ſchien das große volle
Haar zu ſein, welches ſie kroͤnte; die gewaltige,
tiefſchwarze Laſt, vielfach geflochten und gewunden
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[219/0229] ſie beinahe mehr Kraft und Leben verrieth, als die breiteſten Lenden. Das Gewand ſaß ihr ſchoͤn und ſicher auf dem Leibe; ſie liebte es ganz knapp zu tragen, ſo daß ihre ganze Schmalheit erſt recht zu Tage trat, und doch berauſchten ſich die Augen deſſen, der ſie ſah, mehr in dieſer Er¬ ſcheinung, als in den reichen Formen eines uͤppi¬ gen Weibes, und wer einer vollen Schoͤnheit kalt voruͤberging, glaubte dies ſchmale Weſen augen¬ blicklich in die Arme ſchließen zu muͤſſen. Auf ſolchem ſchwanken Stengel aber wiegte ſich die wunderbarſte Blume des Hauptes. In dem marmorweißen Geſicht glaͤnzten zwei große dun¬ kelblaue Augen und ein kirſchrother Mund, und das Rund des Geſichtes ſpitzte ſich ſtark in dem kleinen reizenden Kinne zu, und doch war dies Kinn nicht ſo klein, daß es nicht noch die rei¬ zendſte Andeutung einer Verdoppelung geziert haͤtte. Aber der breiteſte Theil der ganzen Ge¬ ſtalt im woͤrtlichen Sinne ſchien das große volle Haar zu ſein, welches ſie kroͤnte; die gewaltige, tiefſchwarze Laſt, vielfach geflochten und gewunden und immer mit gruͤnem Seidenbande durchzogen,

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854, S. 219. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich03_1854/229>, abgerufen am 25.11.2024.