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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854.

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ihr Name schon lange bis auf die letzte Spur in
meinem Gedächtniß verwischt. Wir gingen ge¬
rade dem Waldbache entlang, über welchem der
Mond ein geheimnißvolles Netz von Dunkel und
Licht zittern ließ; Judith verschwand plötzlich von
meiner Seite und huschte durch die Büsche, wäh¬
rend ich verblüfft vorwärts ging. Dies dauerte
wohl fünf Minuten, während welcher ich keinen
Laut vernahm außer dem leisen Wehen der Bäume
und dem Rieseln der Wellen. Es wurde mir zu
Muthe, wie wenn Judith sich aufgelöst hätte und
still in die Natur verschwunden wäre, in welcher
mich ihre Elemente geisterhaft neckend umrausch¬
ten. So gelangte ich unversehens in die Gegend
der Heidenstube und sah nun die graue Fels¬
wand im hellen Vollmond, der über den Bäumen
stand, in den Himmel ragen; das Wasser und
die Steine zu meinen Füßen waren ebenfalls be¬
schienen. Auf den Steinen lagen Kleider, zu
oberst ein weißes Hemd, welches, als ich es auf¬
hob, noch ganz warm war, wie eine so eben ent¬
seelte irdische Hülle. Ich vernahm aber keinen
Laut, noch sah ich etwas von Judith, es wurde

ihr Name ſchon lange bis auf die letzte Spur in
meinem Gedaͤchtniß verwiſcht. Wir gingen ge¬
rade dem Waldbache entlang, uͤber welchem der
Mond ein geheimnißvolles Netz von Dunkel und
Licht zittern ließ; Judith verſchwand ploͤtzlich von
meiner Seite und huſchte durch die Buͤſche, waͤh¬
rend ich verbluͤfft vorwaͤrts ging. Dies dauerte
wohl fuͤnf Minuten, waͤhrend welcher ich keinen
Laut vernahm außer dem leiſen Wehen der Baͤume
und dem Rieſeln der Wellen. Es wurde mir zu
Muthe, wie wenn Judith ſich aufgeloͤſt haͤtte und
ſtill in die Natur verſchwunden waͤre, in welcher
mich ihre Elemente geiſterhaft neckend umrauſch¬
ten. So gelangte ich unverſehens in die Gegend
der Heidenſtube und ſah nun die graue Fels¬
wand im hellen Vollmond, der uͤber den Baͤumen
ſtand, in den Himmel ragen; das Waſſer und
die Steine zu meinen Fuͤßen waren ebenfalls be¬
ſchienen. Auf den Steinen lagen Kleider, zu
oberſt ein weißes Hemd, welches, als ich es auf¬
hob, noch ganz warm war, wie eine ſo eben ent¬
ſeelte irdiſche Huͤlle. Ich vernahm aber keinen
Laut, noch ſah ich etwas von Judith, es wurde

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[127/0137] ihr Name ſchon lange bis auf die letzte Spur in meinem Gedaͤchtniß verwiſcht. Wir gingen ge¬ rade dem Waldbache entlang, uͤber welchem der Mond ein geheimnißvolles Netz von Dunkel und Licht zittern ließ; Judith verſchwand ploͤtzlich von meiner Seite und huſchte durch die Buͤſche, waͤh¬ rend ich verbluͤfft vorwaͤrts ging. Dies dauerte wohl fuͤnf Minuten, waͤhrend welcher ich keinen Laut vernahm außer dem leiſen Wehen der Baͤume und dem Rieſeln der Wellen. Es wurde mir zu Muthe, wie wenn Judith ſich aufgeloͤſt haͤtte und ſtill in die Natur verſchwunden waͤre, in welcher mich ihre Elemente geiſterhaft neckend umrauſch¬ ten. So gelangte ich unverſehens in die Gegend der Heidenſtube und ſah nun die graue Fels¬ wand im hellen Vollmond, der uͤber den Baͤumen ſtand, in den Himmel ragen; das Waſſer und die Steine zu meinen Fuͤßen waren ebenfalls be¬ ſchienen. Auf den Steinen lagen Kleider, zu oberſt ein weißes Hemd, welches, als ich es auf¬ hob, noch ganz warm war, wie eine ſo eben ent¬ ſeelte irdiſche Huͤlle. Ich vernahm aber keinen Laut, noch ſah ich etwas von Judith, es wurde

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854, S. 127. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich03_1854/137>, abgerufen am 08.05.2024.