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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854.

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stellen, und was darin noch gefehlt war, sollte
mich aufmerksam machen, daß wir eben allzumal
Sünder und der Barmherzigkeit des Erlösers
bedürftig seien. Das Wort Sünder war mir
aber ein für alle Mal verhaßt und lächerlich und
ebenso die Barmherzigkeit; vielmehr wollte ich
ganz unbarmherzig die Sache mit mir selbst aus¬
fechten und mich verurtheilen auf gut weltlich ge¬
richtliche Art und durchaus nicht auf geistliche
Weise. Plötzlich aber bekam Anna, welche sich
bisher still verhalten, aufgeregt durch meine Er¬
zählung und durch mein Gebaren, einen heftigen
Anfall ihrer Krämpfe und Leiden, daß ich das
arme zarte Wesen zum ersten Mal seiner ganzen
hülflosen Qual verfallen sah. Große Thränen,
durch Noth und Angst erpreßt, rollten über ihre
weißen Wangen, ohne daß sie dieselben aufhalten
konnte. Sie war ganz durch die Bewegungen
ihrer Leiden beschäftigt, so daß bald alle Rücksicht
und Haltung verschwinden mußten, und nur dann
und wann richtete sie einen kurzen irrenden Blick
auf mich, wie aus einer fremden Welt des
Schmerzes heraus; zugleich schien sie dann eine

ſtellen, und was darin noch gefehlt war, ſollte
mich aufmerkſam machen, daß wir eben allzumal
Suͤnder und der Barmherzigkeit des Erloͤſers
beduͤrftig ſeien. Das Wort Suͤnder war mir
aber ein fuͤr alle Mal verhaßt und laͤcherlich und
ebenſo die Barmherzigkeit; vielmehr wollte ich
ganz unbarmherzig die Sache mit mir ſelbſt aus¬
fechten und mich verurtheilen auf gut weltlich ge¬
richtliche Art und durchaus nicht auf geiſtliche
Weiſe. Ploͤtzlich aber bekam Anna, welche ſich
bisher ſtill verhalten, aufgeregt durch meine Er¬
zaͤhlung und durch mein Gebaren, einen heftigen
Anfall ihrer Kraͤmpfe und Leiden, daß ich das
arme zarte Weſen zum erſten Mal ſeiner ganzen
huͤlfloſen Qual verfallen ſah. Große Thraͤnen,
durch Noth und Angſt erpreßt, rollten uͤber ihre
weißen Wangen, ohne daß ſie dieſelben aufhalten
konnte. Sie war ganz durch die Bewegungen
ihrer Leiden beſchaͤftigt, ſo daß bald alle Ruͤckſicht
und Haltung verſchwinden mußten, und nur dann
und wann richtete ſie einen kurzen irrenden Blick
auf mich, wie aus einer fremden Welt des
Schmerzes heraus; zugleich ſchien ſie dann eine

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[111/0121] ſtellen, und was darin noch gefehlt war, ſollte mich aufmerkſam machen, daß wir eben allzumal Suͤnder und der Barmherzigkeit des Erloͤſers beduͤrftig ſeien. Das Wort Suͤnder war mir aber ein fuͤr alle Mal verhaßt und laͤcherlich und ebenſo die Barmherzigkeit; vielmehr wollte ich ganz unbarmherzig die Sache mit mir ſelbſt aus¬ fechten und mich verurtheilen auf gut weltlich ge¬ richtliche Art und durchaus nicht auf geiſtliche Weiſe. Ploͤtzlich aber bekam Anna, welche ſich bisher ſtill verhalten, aufgeregt durch meine Er¬ zaͤhlung und durch mein Gebaren, einen heftigen Anfall ihrer Kraͤmpfe und Leiden, daß ich das arme zarte Weſen zum erſten Mal ſeiner ganzen huͤlfloſen Qual verfallen ſah. Große Thraͤnen, durch Noth und Angſt erpreßt, rollten uͤber ihre weißen Wangen, ohne daß ſie dieſelben aufhalten konnte. Sie war ganz durch die Bewegungen ihrer Leiden beſchaͤftigt, ſo daß bald alle Ruͤckſicht und Haltung verſchwinden mußten, und nur dann und wann richtete ſie einen kurzen irrenden Blick auf mich, wie aus einer fremden Welt des Schmerzes heraus; zugleich ſchien ſie dann eine

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854, S. 111. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich03_1854/121>, abgerufen am 25.11.2024.