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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854.

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ihres Kleides vernahm. Die Nacht war dunkel,
aber das Frauenhafte, Sichere und die Fülle
ihres Wesens wirkte aus allen Umrissen ihrer
Gestalt wie berauschend auf mich, daß ich alle
Augenblicke hinüberschielen mußte, gleich einem
angstvollen Wanderer, dem ein Feldgespenst zur
Seite geht. Und wie der Wanderer mitten in
seiner Angst sein christliches Bewußtsein wach
ruft zum Schutze gegen den unheimlichen Beglei¬
ter, trug ich während des verlockenden Ganges
einen geistlichen Hochmuth der Sprödigkeit und
der Unfehlbarkeit in mir. Judith sprach von den
Männern und lachte über sie, erzählte mir un¬
befangen die Dummheiten, die der Eine ihr ge¬
macht, und fragte mich, ob Luna nicht eine alte
Mondgöttin wäre? Wenigstens habe sie das im¬
mer vermuthet, wenn sie jenes Lied in einem
alten Buche gelesen; es habe auch gut für den
Schlingel gepaßt. Dann fragte sie mich plötzlich,
warum ich so stolz geworden sei und sie seit
Jahren nie mehr angesehen, viel weniger besucht
habe? Ich wollte mich damit entschuldigen, daß
sie keinen Verkehr mit dem Hause meines Oheims

ihres Kleides vernahm. Die Nacht war dunkel,
aber das Frauenhafte, Sichere und die Fuͤlle
ihres Weſens wirkte aus allen Umriſſen ihrer
Geſtalt wie berauſchend auf mich, daß ich alle
Augenblicke hinuͤberſchielen mußte, gleich einem
angſtvollen Wanderer, dem ein Feldgeſpenſt zur
Seite geht. Und wie der Wanderer mitten in
ſeiner Angſt ſein chriſtliches Bewußtſein wach
ruft zum Schutze gegen den unheimlichen Beglei¬
ter, trug ich waͤhrend des verlockenden Ganges
einen geiſtlichen Hochmuth der Sproͤdigkeit und
der Unfehlbarkeit in mir. Judith ſprach von den
Maͤnnern und lachte uͤber ſie, erzaͤhlte mir un¬
befangen die Dummheiten, die der Eine ihr ge¬
macht, und fragte mich, ob Luna nicht eine alte
Mondgoͤttin waͤre? Wenigſtens habe ſie das im¬
mer vermuthet, wenn ſie jenes Lied in einem
alten Buche geleſen; es habe auch gut fuͤr den
Schlingel gepaßt. Dann fragte ſie mich ploͤtzlich,
warum ich ſo ſtolz geworden ſei und ſie ſeit
Jahren nie mehr angeſehen, viel weniger beſucht
habe? Ich wollte mich damit entſchuldigen, daß
ſie keinen Verkehr mit dem Hauſe meines Oheims

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[439/0449] ihres Kleides vernahm. Die Nacht war dunkel, aber das Frauenhafte, Sichere und die Fuͤlle ihres Weſens wirkte aus allen Umriſſen ihrer Geſtalt wie berauſchend auf mich, daß ich alle Augenblicke hinuͤberſchielen mußte, gleich einem angſtvollen Wanderer, dem ein Feldgeſpenſt zur Seite geht. Und wie der Wanderer mitten in ſeiner Angſt ſein chriſtliches Bewußtſein wach ruft zum Schutze gegen den unheimlichen Beglei¬ ter, trug ich waͤhrend des verlockenden Ganges einen geiſtlichen Hochmuth der Sproͤdigkeit und der Unfehlbarkeit in mir. Judith ſprach von den Maͤnnern und lachte uͤber ſie, erzaͤhlte mir un¬ befangen die Dummheiten, die der Eine ihr ge¬ macht, und fragte mich, ob Luna nicht eine alte Mondgoͤttin waͤre? Wenigſtens habe ſie das im¬ mer vermuthet, wenn ſie jenes Lied in einem alten Buche geleſen; es habe auch gut fuͤr den Schlingel gepaßt. Dann fragte ſie mich ploͤtzlich, warum ich ſo ſtolz geworden ſei und ſie ſeit Jahren nie mehr angeſehen, viel weniger beſucht habe? Ich wollte mich damit entſchuldigen, daß ſie keinen Verkehr mit dem Hauſe meines Oheims

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854, S. 439. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich02_1854/449>, abgerufen am 23.11.2024.