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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854.

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verstehen, weil ich ziemlich das Gleiche fühlte,
nur nicht so tief und fein wie sie; daher erwiederte
ich Nichts, sondern setzte mich still neben sie, sie
lehnte sich auf meine Schulter und so blickten
wir mit düsterem Schweigen in das feuchte Ele¬
ment, von dessen Grund unser Spiegelbild,
Haupt neben Haupt, zu uns herauf sah.

Nicht nur unsere Neigung, sondern unsere
ganze gegenseitige Art, war zu ernst und zu tief,
als daß ein so frühzeitiges unbeschränktes Lieb¬
kosen, Herzen und Küssen derselben hätte ent¬
sprechen können; wir waren keine Kinder mehr
und doch lagen noch zu viele Jugendjahre vor
uns, deren allmälige Blüthen voraus zu brechen
unsere Natur zu stolz war. Meine Phantasie
war zwar schon seit geraumer Zeit, eigentlich von
jeher wach; allein abgesehen davon, daß zwischen
Phantasie und Wirklichkeit eine jähe Kluft liegt,
hatte ich, wenn mich verlangte, schöne Frauen zu
liebkosen, immer mir sonst gleichgültige, meist
nicht ganz junge Weiber im Sinne, nicht ein
einziges Mal aber Anna, welcher immer nah zu
sein und sie mein eigen zu wissen mein einziger

verſtehen, weil ich ziemlich das Gleiche fuͤhlte,
nur nicht ſo tief und fein wie ſie; daher erwiederte
ich Nichts, ſondern ſetzte mich ſtill neben ſie, ſie
lehnte ſich auf meine Schulter und ſo blickten
wir mit duͤſterem Schweigen in das feuchte Ele¬
ment, von deſſen Grund unſer Spiegelbild,
Haupt neben Haupt, zu uns herauf ſah.

Nicht nur unſere Neigung, ſondern unſere
ganze gegenſeitige Art, war zu ernſt und zu tief,
als daß ein ſo fruͤhzeitiges unbeſchraͤnktes Lieb¬
koſen, Herzen und Kuͤſſen derſelben haͤtte ent¬
ſprechen koͤnnen; wir waren keine Kinder mehr
und doch lagen noch zu viele Jugendjahre vor
uns, deren allmaͤlige Bluͤthen voraus zu brechen
unſere Natur zu ſtolz war. Meine Phantaſie
war zwar ſchon ſeit geraumer Zeit, eigentlich von
jeher wach; allein abgeſehen davon, daß zwiſchen
Phantaſie und Wirklichkeit eine jaͤhe Kluft liegt,
hatte ich, wenn mich verlangte, ſchoͤne Frauen zu
liebkoſen, immer mir ſonſt gleichguͤltige, meiſt
nicht ganz junge Weiber im Sinne, nicht ein
einziges Mal aber Anna, welcher immer nah zu
ſein und ſie mein eigen zu wiſſen mein einziger

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[413/0423] verſtehen, weil ich ziemlich das Gleiche fuͤhlte, nur nicht ſo tief und fein wie ſie; daher erwiederte ich Nichts, ſondern ſetzte mich ſtill neben ſie, ſie lehnte ſich auf meine Schulter und ſo blickten wir mit duͤſterem Schweigen in das feuchte Ele¬ ment, von deſſen Grund unſer Spiegelbild, Haupt neben Haupt, zu uns herauf ſah. Nicht nur unſere Neigung, ſondern unſere ganze gegenſeitige Art, war zu ernſt und zu tief, als daß ein ſo fruͤhzeitiges unbeſchraͤnktes Lieb¬ koſen, Herzen und Kuͤſſen derſelben haͤtte ent¬ ſprechen koͤnnen; wir waren keine Kinder mehr und doch lagen noch zu viele Jugendjahre vor uns, deren allmaͤlige Bluͤthen voraus zu brechen unſere Natur zu ſtolz war. Meine Phantaſie war zwar ſchon ſeit geraumer Zeit, eigentlich von jeher wach; allein abgeſehen davon, daß zwiſchen Phantaſie und Wirklichkeit eine jaͤhe Kluft liegt, hatte ich, wenn mich verlangte, ſchoͤne Frauen zu liebkoſen, immer mir ſonſt gleichguͤltige, meiſt nicht ganz junge Weiber im Sinne, nicht ein einziges Mal aber Anna, welcher immer nah zu ſein und ſie mein eigen zu wiſſen mein einziger

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854, S. 413. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich02_1854/423>, abgerufen am 23.11.2024.