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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854.

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Christenthum einverleibt, endlich das ganze Be¬
wußtsein und die Bildung der christlichen Welt,
welche wir Alle zusammen ausmachen, erreicht
haben, dann wird jenes naive Morgengefühl der
Liebe wieder untergehen in der allgemeinen Kälte
der alten Christenwelt und nur da bestehen, wo
es ursprünglich in den Menschen wurzelte, also
zuletzt überall auferstehen. Schon die unmittelbare
Rücksicht auf den lieben Gott ist mir hinderlich
und unbequem, wenn sich die natürliche Liebe in
mir geltend machen will. Da einmal bei unseren
Handlungen das Denken an Gott und das Ver¬
dienst in den Augen Gottes so fest in die Men¬
schenwelt gewebt ist, so kann man oft trotz aller
Unbefangenheit nicht verhindern, daß bei guten
oder vielmehr pflichtmäßigen Handlungen nicht im
tiefsten Innern der Hinblick auf Gott auftaucht
mit der eigennützigen Hoffnung, daß Er uns die
That wohlgefällig gut schreiben werde. Schon
oft ist es mir begegnet, daß ich einen armen
Mann auf der Straße abwies, weil ich, während
ich ihm eben das Wenige geben wollte, das ich
hatte, zugleich an das Wohlgefallen Gottes dachte

Chriſtenthum einverleibt, endlich das ganze Be¬
wußtſein und die Bildung der chriſtlichen Welt,
welche wir Alle zuſammen ausmachen, erreicht
haben, dann wird jenes naive Morgengefuͤhl der
Liebe wieder untergehen in der allgemeinen Kaͤlte
der alten Chriſtenwelt und nur da beſtehen, wo
es urſpruͤnglich in den Menſchen wurzelte, alſo
zuletzt uͤberall auferſtehen. Schon die unmittelbare
Ruͤckſicht auf den lieben Gott iſt mir hinderlich
und unbequem, wenn ſich die natuͤrliche Liebe in
mir geltend machen will. Da einmal bei unſeren
Handlungen das Denken an Gott und das Ver¬
dienſt in den Augen Gottes ſo feſt in die Men¬
ſchenwelt gewebt iſt, ſo kann man oft trotz aller
Unbefangenheit nicht verhindern, daß bei guten
oder vielmehr pflichtmaͤßigen Handlungen nicht im
tiefſten Innern der Hinblick auf Gott auftaucht
mit der eigennuͤtzigen Hoffnung, daß Er uns die
That wohlgefaͤllig gut ſchreiben werde. Schon
oft iſt es mir begegnet, daß ich einen armen
Mann auf der Straße abwies, weil ich, waͤhrend
ich ihm eben das Wenige geben wollte, das ich
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[318/0328] Chriſtenthum einverleibt, endlich das ganze Be¬ wußtſein und die Bildung der chriſtlichen Welt, welche wir Alle zuſammen ausmachen, erreicht haben, dann wird jenes naive Morgengefuͤhl der Liebe wieder untergehen in der allgemeinen Kaͤlte der alten Chriſtenwelt und nur da beſtehen, wo es urſpruͤnglich in den Menſchen wurzelte, alſo zuletzt uͤberall auferſtehen. Schon die unmittelbare Ruͤckſicht auf den lieben Gott iſt mir hinderlich und unbequem, wenn ſich die natuͤrliche Liebe in mir geltend machen will. Da einmal bei unſeren Handlungen das Denken an Gott und das Ver¬ dienſt in den Augen Gottes ſo feſt in die Men¬ ſchenwelt gewebt iſt, ſo kann man oft trotz aller Unbefangenheit nicht verhindern, daß bei guten oder vielmehr pflichtmaͤßigen Handlungen nicht im tiefſten Innern der Hinblick auf Gott auftaucht mit der eigennuͤtzigen Hoffnung, daß Er uns die That wohlgefaͤllig gut ſchreiben werde. Schon oft iſt es mir begegnet, daß ich einen armen Mann auf der Straße abwies, weil ich, waͤhrend ich ihm eben das Wenige geben wollte, das ich hatte, zugleich an das Wohlgefallen Gottes dachte

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854, S. 318. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich02_1854/328>, abgerufen am 26.11.2024.