Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854.

Bild:
<< vorherige Seite

Hol' einmal selbst, kleiner Heinrich, wir sind
gerade gleich alt! versetzte die Kleine und die
Uebrigen machten ganz enttäuschte Gesichter, da
meine Erfindung zu natürlich und wahrhaft aus¬
sah. Nur Anna mußte wissen, daß die Erklä¬
rung doch ausschließlich an sie gerichtet war,
weil sie allein an der Berufung auf das Grab
der Großmutter erkennen konnte, daß Stoff und
Datum neu waren. Sie rührte sich nicht. So
war nun der Inhalt des fliegenden Blattes doch
noch an seine rechte Bestimmung gelangt und
ich konnte seine Wirkung sich selbst überlas¬
sen, ohne mit meiner Person unmittelbar dazu
zu stehen und ohne daß die Mädchen einen
Triumph davon hatten. Ich wurde so sicher und
kühn, daß ich das Papier nahm, zusammenfaltete
und es der Anna mit einer komischen Verbeugung
und den Worten überreichte: Da man dieser
Stylübung einmal einen höheren Zweck zugeschrie¬
ben hat, so geruhen sie, verehrtes Fräulein! dem
irrenden Blatte ein schützendes Obdach zu geben
und dasselbe als eine Erinnerung an diesen denk¬
würdigen Nachmittag von mir anzunehmen! Sie

Hol' einmal ſelbſt, kleiner Heinrich, wir ſind
gerade gleich alt! verſetzte die Kleine und die
Uebrigen machten ganz enttaͤuſchte Geſichter, da
meine Erfindung zu natuͤrlich und wahrhaft aus¬
ſah. Nur Anna mußte wiſſen, daß die Erklaͤ¬
rung doch ausſchließlich an ſie gerichtet war,
weil ſie allein an der Berufung auf das Grab
der Großmutter erkennen konnte, daß Stoff und
Datum neu waren. Sie ruͤhrte ſich nicht. So
war nun der Inhalt des fliegenden Blattes doch
noch an ſeine rechte Beſtimmung gelangt und
ich konnte ſeine Wirkung ſich ſelbſt uͤberlaſ¬
ſen, ohne mit meiner Perſon unmittelbar dazu
zu ſtehen und ohne daß die Maͤdchen einen
Triumph davon hatten. Ich wurde ſo ſicher und
kuͤhn, daß ich das Papier nahm, zuſammenfaltete
und es der Anna mit einer komiſchen Verbeugung
und den Worten uͤberreichte: Da man dieſer
Styluͤbung einmal einen hoͤheren Zweck zugeſchrie¬
ben hat, ſo geruhen ſie, verehrtes Fraͤulein! dem
irrenden Blatte ein ſchuͤtzendes Obdach zu geben
und daſſelbe als eine Erinnerung an dieſen denk¬
wuͤrdigen Nachmittag von mir anzunehmen! Sie

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0288" n="278"/>
        <p>Hol' einmal &#x017F;elb&#x017F;t, kleiner Heinrich, wir &#x017F;ind<lb/>
gerade gleich alt! ver&#x017F;etzte die Kleine und die<lb/>
Uebrigen machten ganz entta&#x0364;u&#x017F;chte Ge&#x017F;ichter, da<lb/>
meine Erfindung zu natu&#x0364;rlich und wahrhaft aus¬<lb/>
&#x017F;ah. Nur Anna mußte wi&#x017F;&#x017F;en, daß die Erkla&#x0364;¬<lb/>
rung doch aus&#x017F;chließlich an &#x017F;ie gerichtet war,<lb/>
weil &#x017F;ie allein an der Berufung auf das Grab<lb/>
der Großmutter erkennen konnte, daß Stoff und<lb/>
Datum neu waren. Sie ru&#x0364;hrte &#x017F;ich nicht. So<lb/>
war nun der Inhalt des fliegenden Blattes doch<lb/>
noch an &#x017F;eine rechte Be&#x017F;timmung gelangt und<lb/>
ich konnte &#x017F;eine Wirkung &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t u&#x0364;berla&#x017F;¬<lb/>
&#x017F;en, ohne mit meiner Per&#x017F;on unmittelbar dazu<lb/>
zu &#x017F;tehen und ohne daß die Ma&#x0364;dchen einen<lb/>
Triumph davon hatten. Ich wurde &#x017F;o &#x017F;icher und<lb/>
ku&#x0364;hn, daß ich das Papier nahm, zu&#x017F;ammenfaltete<lb/>
und es der Anna mit einer komi&#x017F;chen Verbeugung<lb/>
und den Worten u&#x0364;berreichte: Da man die&#x017F;er<lb/>
Stylu&#x0364;bung einmal einen ho&#x0364;heren Zweck zuge&#x017F;chrie¬<lb/>
ben hat, &#x017F;o geruhen &#x017F;ie, verehrtes Fra&#x0364;ulein! dem<lb/>
irrenden Blatte ein &#x017F;chu&#x0364;tzendes Obdach zu geben<lb/>
und da&#x017F;&#x017F;elbe als eine Erinnerung an die&#x017F;en denk¬<lb/>
wu&#x0364;rdigen Nachmittag von mir anzunehmen! Sie<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[278/0288] Hol' einmal ſelbſt, kleiner Heinrich, wir ſind gerade gleich alt! verſetzte die Kleine und die Uebrigen machten ganz enttaͤuſchte Geſichter, da meine Erfindung zu natuͤrlich und wahrhaft aus¬ ſah. Nur Anna mußte wiſſen, daß die Erklaͤ¬ rung doch ausſchließlich an ſie gerichtet war, weil ſie allein an der Berufung auf das Grab der Großmutter erkennen konnte, daß Stoff und Datum neu waren. Sie ruͤhrte ſich nicht. So war nun der Inhalt des fliegenden Blattes doch noch an ſeine rechte Beſtimmung gelangt und ich konnte ſeine Wirkung ſich ſelbſt uͤberlaſ¬ ſen, ohne mit meiner Perſon unmittelbar dazu zu ſtehen und ohne daß die Maͤdchen einen Triumph davon hatten. Ich wurde ſo ſicher und kuͤhn, daß ich das Papier nahm, zuſammenfaltete und es der Anna mit einer komiſchen Verbeugung und den Worten uͤberreichte: Da man dieſer Styluͤbung einmal einen hoͤheren Zweck zugeſchrie¬ ben hat, ſo geruhen ſie, verehrtes Fraͤulein! dem irrenden Blatte ein ſchuͤtzendes Obdach zu geben und daſſelbe als eine Erinnerung an dieſen denk¬ wuͤrdigen Nachmittag von mir anzunehmen! Sie

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich02_1854
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich02_1854/288
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854, S. 278. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich02_1854/288>, abgerufen am 23.11.2024.