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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854.

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saurer Mühe den Sinn des Schlichten, aber
Wahren.

Inzwischen erfreute ich mich des Wiederfindens
alles Dessen, was ich im letzten Jahre hier ver¬
lassen, beobachtete alle Veränderungen, welche
etwa vorgefallen, und harrte im Stillen auf den
Augenblick, wo ich Anna wiedersehen oder wenig¬
stens zuerst ihren Namen hören würde. Aber
schon waren einige Tage verflossen, ohne daß die
geringste Erwähnung fiel, und je länger dies an¬
dauerte, desto minder brachte ich die Frage nach
ihr hervor. Man schien sie völlig vergessen zu
haben, sie schien nie da gewesen zu sein, und,
was mich innerlich kränkte, Niemand schien die
geringste Ahnung zu haben, daß ich irgend eine
Veranlassung oder ein Bedürfniß haben könnte,
von ihr zu hören. Wohl ging ich halbwegs über
den Berg, oder in den Schatten des Flußthales,
allein jedesmal kehrte ich plötzlich um aus uner¬
klärlicher Furcht, ihr zu begegnen. Ich ging auf
den Kirchhof und stand an dem Grabe der Gro߬
mutter, welche nun schon seit einem Jahre in der
Erde lag, aber die Luft war windstill vom Ge¬

ſaurer Muͤhe den Sinn des Schlichten, aber
Wahren.

Inzwiſchen erfreute ich mich des Wiederfindens
alles Deſſen, was ich im letzten Jahre hier ver¬
laſſen, beobachtete alle Veraͤnderungen, welche
etwa vorgefallen, und harrte im Stillen auf den
Augenblick, wo ich Anna wiederſehen oder wenig¬
ſtens zuerſt ihren Namen hoͤren wuͤrde. Aber
ſchon waren einige Tage verfloſſen, ohne daß die
geringſte Erwaͤhnung fiel, und je laͤnger dies an¬
dauerte, deſto minder brachte ich die Frage nach
ihr hervor. Man ſchien ſie voͤllig vergeſſen zu
haben, ſie ſchien nie da geweſen zu ſein, und,
was mich innerlich kraͤnkte, Niemand ſchien die
geringſte Ahnung zu haben, daß ich irgend eine
Veranlaſſung oder ein Beduͤrfniß haben koͤnnte,
von ihr zu hoͤren. Wohl ging ich halbwegs uͤber
den Berg, oder in den Schatten des Flußthales,
allein jedesmal kehrte ich ploͤtzlich um aus uner¬
klaͤrlicher Furcht, ihr zu begegnen. Ich ging auf
den Kirchhof und ſtand an dem Grabe der Gro߬
mutter, welche nun ſchon ſeit einem Jahre in der
Erde lag, aber die Luft war windſtill vom Ge¬

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[190/0200] ſaurer Muͤhe den Sinn des Schlichten, aber Wahren. Inzwiſchen erfreute ich mich des Wiederfindens alles Deſſen, was ich im letzten Jahre hier ver¬ laſſen, beobachtete alle Veraͤnderungen, welche etwa vorgefallen, und harrte im Stillen auf den Augenblick, wo ich Anna wiederſehen oder wenig¬ ſtens zuerſt ihren Namen hoͤren wuͤrde. Aber ſchon waren einige Tage verfloſſen, ohne daß die geringſte Erwaͤhnung fiel, und je laͤnger dies an¬ dauerte, deſto minder brachte ich die Frage nach ihr hervor. Man ſchien ſie voͤllig vergeſſen zu haben, ſie ſchien nie da geweſen zu ſein, und, was mich innerlich kraͤnkte, Niemand ſchien die geringſte Ahnung zu haben, daß ich irgend eine Veranlaſſung oder ein Beduͤrfniß haben koͤnnte, von ihr zu hoͤren. Wohl ging ich halbwegs uͤber den Berg, oder in den Schatten des Flußthales, allein jedesmal kehrte ich ploͤtzlich um aus uner¬ klaͤrlicher Furcht, ihr zu begegnen. Ich ging auf den Kirchhof und ſtand an dem Grabe der Gro߬ mutter, welche nun ſchon ſeit einem Jahre in der Erde lag, aber die Luft war windſtill vom Ge¬

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854, S. 190. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich02_1854/200>, abgerufen am 24.11.2024.