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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854.

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machte allen Unfug getreulich und lebhaft mit,
weil ich des Umganges und der Mittheilung be¬
durfte und am wenigsten mich auf weise Zurück¬
haltung und halbe Theilnahme verstand. Und es
war wohl auch am besten so; indessen der innere,
edlere Theil des Menschen unentwickelt blieb,
übte sich wenigstens der äußere tüchtig in der
Reibung mit Anderen, in Vertheidigung und
Angriff, und streifte viel Unbeholfenheit und weich¬
liches Wesen ab; zugleich lernte ich meine Neben¬
menschen und dadurch mich selbst besser kennen
und bereicherte meine Erfahrung, sowie meine
Einbildungskraft. Nur das gänzliche Stillestehen
und die absolute Bewegungslosigkeit sind das
eigentliche Schlimme und gleichen dem Tode.

Daß aber das Heulen mit den Wölfen mir
nicht Schaden that, wie ich glaube, verhütete der
freundliche Stern Anna, der immer in meiner
Seele aufging, sobald ich in dem Hause meiner
Mutter oder auf einsamen Gängen wieder allein
war. An sie knüpfte ich Alles, wessen ich über
den Tag hinaus bedurfte, und sie war das stille
Licht, welches das verdunkelte Herz jeden Abend

machte allen Unfug getreulich und lebhaft mit,
weil ich des Umganges und der Mittheilung be¬
durfte und am wenigſten mich auf weiſe Zuruͤck¬
haltung und halbe Theilnahme verſtand. Und es
war wohl auch am beſten ſo; indeſſen der innere,
edlere Theil des Menſchen unentwickelt blieb,
uͤbte ſich wenigſtens der aͤußere tuͤchtig in der
Reibung mit Anderen, in Vertheidigung und
Angriff, und ſtreifte viel Unbeholfenheit und weich¬
liches Weſen ab; zugleich lernte ich meine Neben¬
menſchen und dadurch mich ſelbſt beſſer kennen
und bereicherte meine Erfahrung, ſowie meine
Einbildungskraft. Nur das gaͤnzliche Stilleſtehen
und die abſolute Bewegungsloſigkeit ſind das
eigentliche Schlimme und gleichen dem Tode.

Daß aber das Heulen mit den Woͤlfen mir
nicht Schaden that, wie ich glaube, verhuͤtete der
freundliche Stern Anna, der immer in meiner
Seele aufging, ſobald ich in dem Hauſe meiner
Mutter oder auf einſamen Gaͤngen wieder allein
war. An ſie knuͤpfte ich Alles, weſſen ich uͤber
den Tag hinaus bedurfte, und ſie war das ſtille
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[173/0183] machte allen Unfug getreulich und lebhaft mit, weil ich des Umganges und der Mittheilung be¬ durfte und am wenigſten mich auf weiſe Zuruͤck¬ haltung und halbe Theilnahme verſtand. Und es war wohl auch am beſten ſo; indeſſen der innere, edlere Theil des Menſchen unentwickelt blieb, uͤbte ſich wenigſtens der aͤußere tuͤchtig in der Reibung mit Anderen, in Vertheidigung und Angriff, und ſtreifte viel Unbeholfenheit und weich¬ liches Weſen ab; zugleich lernte ich meine Neben¬ menſchen und dadurch mich ſelbſt beſſer kennen und bereicherte meine Erfahrung, ſowie meine Einbildungskraft. Nur das gaͤnzliche Stilleſtehen und die abſolute Bewegungsloſigkeit ſind das eigentliche Schlimme und gleichen dem Tode. Daß aber das Heulen mit den Woͤlfen mir nicht Schaden that, wie ich glaube, verhuͤtete der freundliche Stern Anna, der immer in meiner Seele aufging, ſobald ich in dem Hauſe meiner Mutter oder auf einſamen Gaͤngen wieder allein war. An ſie knuͤpfte ich Alles, weſſen ich uͤber den Tag hinaus bedurfte, und ſie war das ſtille Licht, welches das verdunkelte Herz jeden Abend

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854, S. 173. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich02_1854/183>, abgerufen am 25.11.2024.