lebendige Großmutter erschien. Auf engen Pfa¬ den, unter fruchtbeschwerten Bäumen hin, um stille Gehöfte herum gelangten wir endlich vor ihr Haus, welches in tief grünem schweigendem Schatten lag: sie stand unter der braunen Thür und schien, die Hand über den Augen, sich nach mir umzusehen. Sogleich führte sie mich in die Stube hinein und hieß mich mit sanfter Stimme willkommen, ging zu einem blanken zinnernen Gießfasse, welches in gebohnter Nußbaumnische über einer schweren zinnernen Schale hing, drehte den Hahn und ließ sich das klare Wasser über die kleinen gebräunten Hände strömen. Dann setzte sie Wein und Brot auf den Tisch, stand lächelnd, bis ich getrunken und gegessen hatte, und setzte sich hierauf ganz nahe zu mir, da ihre Augen schwach waren, betrachtete mich unver¬ wandt, während sie nach der Mutter und unse¬ rem Ergehen fragte und doch zugleich in Erinne¬ rung früherer Zeit versunken schien. Auch ich sah sie aufmerksam und ehrerbietig an und behel¬ ligte sie nicht mit kleinen Berichten, welche mir nicht hieher zu gehören schienen. Sie war schlank
lebendige Großmutter erſchien. Auf engen Pfa¬ den, unter fruchtbeſchwerten Baͤumen hin, um ſtille Gehoͤfte herum gelangten wir endlich vor ihr Haus, welches in tief gruͤnem ſchweigendem Schatten lag: ſie ſtand unter der braunen Thuͤr und ſchien, die Hand uͤber den Augen, ſich nach mir umzuſehen. Sogleich fuͤhrte ſie mich in die Stube hinein und hieß mich mit ſanfter Stimme willkommen, ging zu einem blanken zinnernen Gießfaſſe, welches in gebohnter Nußbaumniſche uͤber einer ſchweren zinnernen Schale hing, drehte den Hahn und ließ ſich das klare Waſſer uͤber die kleinen gebraͤunten Haͤnde ſtroͤmen. Dann ſetzte ſie Wein und Brot auf den Tiſch, ſtand laͤchelnd, bis ich getrunken und gegeſſen hatte, und ſetzte ſich hierauf ganz nahe zu mir, da ihre Augen ſchwach waren, betrachtete mich unver¬ wandt, waͤhrend ſie nach der Mutter und unſe¬ rem Ergehen fragte und doch zugleich in Erinne¬ rung fruͤherer Zeit verſunken ſchien. Auch ich ſah ſie aufmerkſam und ehrerbietig an und behel¬ ligte ſie nicht mit kleinen Berichten, welche mir nicht hieher zu gehoͤren ſchienen. Sie war ſchlank
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lebendige Großmutter erſchien. Auf engen Pfa¬
den, unter fruchtbeſchwerten Baͤumen hin, um
ſtille Gehoͤfte herum gelangten wir endlich vor
ihr Haus, welches in tief gruͤnem ſchweigendem
Schatten lag: ſie ſtand unter der braunen Thuͤr
und ſchien, die Hand uͤber den Augen, ſich nach
mir umzuſehen. Sogleich fuͤhrte ſie mich in die
Stube hinein und hieß mich mit ſanfter Stimme
willkommen, ging zu einem blanken zinnernen
Gießfaſſe, welches in gebohnter Nußbaumniſche
uͤber einer ſchweren zinnernen Schale hing, drehte
den Hahn und ließ ſich das klare Waſſer uͤber
die kleinen gebraͤunten Haͤnde ſtroͤmen. Dann
ſetzte ſie Wein und Brot auf den Tiſch, ſtand
laͤchelnd, bis ich getrunken und gegeſſen hatte,
und ſetzte ſich hierauf ganz nahe zu mir, da ihre
Augen ſchwach waren, betrachtete mich unver¬
wandt, waͤhrend ſie nach der Mutter und unſe¬
rem Ergehen fragte und doch zugleich in Erinne¬
rung fruͤherer Zeit verſunken ſchien. Auch ich
ſah ſie aufmerkſam und ehrerbietig an und behel¬
ligte ſie nicht mit kleinen Berichten, welche mir
nicht hieher zu gehoͤren ſchienen. Sie war ſchlank
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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854, S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich02_1854/17>, abgerufen am 18.12.2024.
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