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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854.

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strenge Untersuchung. Wir wurden in einem
Saale versammelt und einzeln aufgerufen, um
vor ein Tribunal zu treten, welches in einer
Nebenstube saß. Das Verhör dauerte einige
Stunden, die Zurückkehrenden gingen sogleich weg,
ohne Bericht zu geben; zwei Drittheile der Ver¬
sammelten waren schon fort und noch wurde ich
nicht aufgerufen; dagegen bemerkte ich, daß zu¬
letzt Alle, welche aus der Verhörstube kamen,
mich ansahen, ehe sie weggingen. Zuletzt hieß es,
der ganze Rest solle hereinkommen mit Ausnahme
des grünen Heinrich.

Wenn ich nicht überzeugt wäre, daß die Kind¬
heit schon ein Vorspiel des ganzen Lebens ist
und bis zu ihrem Abschlusse schon die Hauptzüge
der menschlichen Zerwürfnisse im Kleinen ab¬
spiegele, so daß später nur wenige Erlebnisse vor¬
kommen mögen, deren Umriß nicht wie ein Traum
schon in unserm Wissen vorhanden, wie ein
Schema, welches, wenn es Gutes bedeutet, froh
zu erfüllen ist, wenn aber Uebles, als frühe War¬
nung gelten kann, so würde ich mich nicht so weit¬
läufig mit den kleinen Dingen jener Zeit beschäftigen.

ſtrenge Unterſuchung. Wir wurden in einem
Saale verſammelt und einzeln aufgerufen, um
vor ein Tribunal zu treten, welches in einer
Nebenſtube ſaß. Das Verhoͤr dauerte einige
Stunden, die Zuruͤckkehrenden gingen ſogleich weg,
ohne Bericht zu geben; zwei Drittheile der Ver¬
ſammelten waren ſchon fort und noch wurde ich
nicht aufgerufen; dagegen bemerkte ich, daß zu¬
letzt Alle, welche aus der Verhoͤrſtube kamen,
mich anſahen, ehe ſie weggingen. Zuletzt hieß es,
der ganze Reſt ſolle hereinkommen mit Ausnahme
des gruͤnen Heinrich.

Wenn ich nicht uͤberzeugt waͤre, daß die Kind¬
heit ſchon ein Vorſpiel des ganzen Lebens iſt
und bis zu ihrem Abſchluſſe ſchon die Hauptzuͤge
der menſchlichen Zerwuͤrfniſſe im Kleinen ab¬
ſpiegele, ſo daß ſpaͤter nur wenige Erlebniſſe vor¬
kommen moͤgen, deren Umriß nicht wie ein Traum
ſchon in unſerm Wiſſen vorhanden, wie ein
Schema, welches, wenn es Gutes bedeutet, froh
zu erfuͤllen iſt, wenn aber Uebles, als fruͤhe War¬
nung gelten kann, ſo wuͤrde ich mich nicht ſo weit¬
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[380/0394] ſtrenge Unterſuchung. Wir wurden in einem Saale verſammelt und einzeln aufgerufen, um vor ein Tribunal zu treten, welches in einer Nebenſtube ſaß. Das Verhoͤr dauerte einige Stunden, die Zuruͤckkehrenden gingen ſogleich weg, ohne Bericht zu geben; zwei Drittheile der Ver¬ ſammelten waren ſchon fort und noch wurde ich nicht aufgerufen; dagegen bemerkte ich, daß zu¬ letzt Alle, welche aus der Verhoͤrſtube kamen, mich anſahen, ehe ſie weggingen. Zuletzt hieß es, der ganze Reſt ſolle hereinkommen mit Ausnahme des gruͤnen Heinrich. Wenn ich nicht uͤberzeugt waͤre, daß die Kind¬ heit ſchon ein Vorſpiel des ganzen Lebens iſt und bis zu ihrem Abſchluſſe ſchon die Hauptzuͤge der menſchlichen Zerwuͤrfniſſe im Kleinen ab¬ ſpiegele, ſo daß ſpaͤter nur wenige Erlebniſſe vor¬ kommen moͤgen, deren Umriß nicht wie ein Traum ſchon in unſerm Wiſſen vorhanden, wie ein Schema, welches, wenn es Gutes bedeutet, froh zu erfuͤllen iſt, wenn aber Uebles, als fruͤhe War¬ nung gelten kann, ſo wuͤrde ich mich nicht ſo weit¬ laͤufig mit den kleinen Dingen jener Zeit beſchaͤftigen.

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854, S. 380. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854/394>, abgerufen am 22.11.2024.