tig angewandelt und die Ungeduld übernahm ihn. Er sprang auf und sagte: "Jetzt muß ich gehen, leb' wohl, Mutter!" Die Thränen stürzten ihr in die Augen, als sie ihm die Hand gab, und er fühlte, als er vor ihr her die vier Treppen hinab eilte, daß sein Gesicht ganz heiß wurde, aber er bezwang sich. Die Hausgenossen kamen auch noch unter die Hausthüre, wo Heinrich Allen zumal noch die Hand gab, ohne seine Mutter dabei stark auszuzeichnen, wenn man einen letz¬ ten, flüchtigen und wehmüthigen Blick, den er auf sie warf, ausnehmen will. Das Volk, das mit der äußern Sorge sein Leben lang zu käm¬ pfen hat, erweist sich selbst wenig sichtbare Zärt¬ lichkeit. Von verwandtschaftlichen Umarmungen und Küssen ist wenig zu finden: Niemand küßt sich, als die Kinder und die Liebenden und selbst diese mit mehr Decenz, als die gebildete und sich bewußte Gesellschaft. Daß Männer einander küßten, wäre unerhört und überschwenglich lächer¬ lich. Nur große Ereignisse und Schicksale kön¬ nen hierin eine Ausnahme bewirken.
2 *
tig angewandelt und die Ungeduld uͤbernahm ihn. Er ſprang auf und ſagte: »Jetzt muß ich gehen, leb' wohl, Mutter!« Die Thraͤnen ſtuͤrzten ihr in die Augen, als ſie ihm die Hand gab, und er fuͤhlte, als er vor ihr her die vier Treppen hinab eilte, daß ſein Geſicht ganz heiß wurde, aber er bezwang ſich. Die Hausgenoſſen kamen auch noch unter die Hausthuͤre, wo Heinrich Allen zumal noch die Hand gab, ohne ſeine Mutter dabei ſtark auszuzeichnen, wenn man einen letz¬ ten, fluͤchtigen und wehmuͤthigen Blick, den er auf ſie warf, ausnehmen will. Das Volk, das mit der aͤußern Sorge ſein Leben lang zu kaͤm¬ pfen hat, erweiſt ſich ſelbſt wenig ſichtbare Zaͤrt¬ lichkeit. Von verwandtſchaftlichen Umarmungen und Kuͤſſen iſt wenig zu finden: Niemand kuͤßt ſich, als die Kinder und die Liebenden und ſelbſt dieſe mit mehr Decenz, als die gebildete und ſich bewußte Geſellſchaft. Daß Maͤnner einander kuͤßten, waͤre unerhoͤrt und uͤberſchwenglich laͤcher¬ lich. Nur große Ereigniſſe und Schickſale koͤn¬ nen hierin eine Ausnahme bewirken.
2 *
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0039"n="25"/>
tig angewandelt und die Ungeduld uͤbernahm ihn.<lb/>
Er ſprang auf und ſagte: »Jetzt muß ich gehen,<lb/>
leb' wohl, Mutter!« Die Thraͤnen ſtuͤrzten ihr in<lb/>
die Augen, als ſie ihm die Hand gab, und er<lb/>
fuͤhlte, als er vor ihr her die vier Treppen hinab<lb/>
eilte, daß ſein Geſicht ganz heiß wurde, aber er<lb/>
bezwang ſich. Die Hausgenoſſen kamen auch<lb/>
noch unter die Hausthuͤre, wo Heinrich Allen<lb/>
zumal noch die Hand gab, ohne ſeine Mutter<lb/>
dabei ſtark auszuzeichnen, wenn man einen letz¬<lb/>
ten, fluͤchtigen und wehmuͤthigen Blick, den er<lb/>
auf ſie warf, ausnehmen will. Das Volk, das<lb/>
mit der aͤußern Sorge ſein Leben lang zu kaͤm¬<lb/>
pfen hat, erweiſt ſich ſelbſt wenig ſichtbare Zaͤrt¬<lb/>
lichkeit. Von verwandtſchaftlichen Umarmungen<lb/>
und Kuͤſſen iſt wenig zu finden: Niemand kuͤßt<lb/>ſich, als die Kinder und die Liebenden und ſelbſt<lb/>
dieſe mit mehr Decenz, als die gebildete und ſich<lb/>
bewußte Geſellſchaft. Daß Maͤnner einander<lb/>
kuͤßten, waͤre unerhoͤrt und uͤberſchwenglich laͤcher¬<lb/>
lich. Nur große Ereigniſſe und Schickſale koͤn¬<lb/>
nen hierin eine Ausnahme bewirken.<lb/></p><fwplace="bottom"type="sig">2 *<lb/></fw></div></body></text></TEI>
[25/0039]
tig angewandelt und die Ungeduld uͤbernahm ihn.
Er ſprang auf und ſagte: »Jetzt muß ich gehen,
leb' wohl, Mutter!« Die Thraͤnen ſtuͤrzten ihr in
die Augen, als ſie ihm die Hand gab, und er
fuͤhlte, als er vor ihr her die vier Treppen hinab
eilte, daß ſein Geſicht ganz heiß wurde, aber er
bezwang ſich. Die Hausgenoſſen kamen auch
noch unter die Hausthuͤre, wo Heinrich Allen
zumal noch die Hand gab, ohne ſeine Mutter
dabei ſtark auszuzeichnen, wenn man einen letz¬
ten, fluͤchtigen und wehmuͤthigen Blick, den er
auf ſie warf, ausnehmen will. Das Volk, das
mit der aͤußern Sorge ſein Leben lang zu kaͤm¬
pfen hat, erweiſt ſich ſelbſt wenig ſichtbare Zaͤrt¬
lichkeit. Von verwandtſchaftlichen Umarmungen
und Kuͤſſen iſt wenig zu finden: Niemand kuͤßt
ſich, als die Kinder und die Liebenden und ſelbſt
dieſe mit mehr Decenz, als die gebildete und ſich
bewußte Geſellſchaft. Daß Maͤnner einander
kuͤßten, waͤre unerhoͤrt und uͤberſchwenglich laͤcher¬
lich. Nur große Ereigniſſe und Schickſale koͤn¬
nen hierin eine Ausnahme bewirken.
2 *
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854, S. 25. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854/39>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.