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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854.

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zusammenhängenden Verständnisses rauher, als
man denkt.

Ich hatte ein sehr gutes Gehör und war ein
eifriger Sänger. Wir hatten für die erste Schul¬
zeit eine einfache Notenlehre gekannt, welche nun
eines Morgens mit der eigentlichen verwickelteren
Theorie verwechselt wurde. Die erste Stunde, in
welche der Musikus etwas über die Bedeutung
und allgemeine Einrichtung derselben gesagt haben
mochte, war ich abwesend, und als ich wieder
eintraf, fand ich meine Mitschüler im ängstlichen
Lesen der verschiedenen Skalen und Tonarten be¬
griffen. Ich war nun ein für alle Mal vor die
Thür gesetzt; wenn wir sangen, nachdem der
Lehrer auf seiner Geige den Ton angegeben,
krähete ich mit heller Stimme, traf immer sicher
und wurde öfter gebraucht, die Höhe des Tones
zu halten. Sollte ich aber das Lied lesen, so
stockte ich bald und wurde als böswillig be¬
zeichnet.

Ueberall war dieser unselige Zwiespalt zwi¬
schen klarem Zweck und scheinbarer Zwecklosigkeit,
zwischen vorausgenommener Fertigkeit in diesem

zuſammenhaͤngenden Verſtaͤndniſſes rauher, als
man denkt.

Ich hatte ein ſehr gutes Gehoͤr und war ein
eifriger Saͤnger. Wir hatten fuͤr die erſte Schul¬
zeit eine einfache Notenlehre gekannt, welche nun
eines Morgens mit der eigentlichen verwickelteren
Theorie verwechſelt wurde. Die erſte Stunde, in
welche der Muſikus etwas uͤber die Bedeutung
und allgemeine Einrichtung derſelben geſagt haben
mochte, war ich abweſend, und als ich wieder
eintraf, fand ich meine Mitſchuͤler im aͤngſtlichen
Leſen der verſchiedenen Skalen und Tonarten be¬
griffen. Ich war nun ein fuͤr alle Mal vor die
Thuͤr geſetzt; wenn wir ſangen, nachdem der
Lehrer auf ſeiner Geige den Ton angegeben,
kraͤhete ich mit heller Stimme, traf immer ſicher
und wurde oͤfter gebraucht, die Hoͤhe des Tones
zu halten. Sollte ich aber das Lied leſen, ſo
ſtockte ich bald und wurde als boͤswillig be¬
zeichnet.

Ueberall war dieſer unſelige Zwieſpalt zwi¬
ſchen klarem Zweck und ſcheinbarer Zweckloſigkeit,
zwiſchen vorausgenommener Fertigkeit in dieſem

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[366/0380] zuſammenhaͤngenden Verſtaͤndniſſes rauher, als man denkt. Ich hatte ein ſehr gutes Gehoͤr und war ein eifriger Saͤnger. Wir hatten fuͤr die erſte Schul¬ zeit eine einfache Notenlehre gekannt, welche nun eines Morgens mit der eigentlichen verwickelteren Theorie verwechſelt wurde. Die erſte Stunde, in welche der Muſikus etwas uͤber die Bedeutung und allgemeine Einrichtung derſelben geſagt haben mochte, war ich abweſend, und als ich wieder eintraf, fand ich meine Mitſchuͤler im aͤngſtlichen Leſen der verſchiedenen Skalen und Tonarten be¬ griffen. Ich war nun ein fuͤr alle Mal vor die Thuͤr geſetzt; wenn wir ſangen, nachdem der Lehrer auf ſeiner Geige den Ton angegeben, kraͤhete ich mit heller Stimme, traf immer ſicher und wurde oͤfter gebraucht, die Hoͤhe des Tones zu halten. Sollte ich aber das Lied leſen, ſo ſtockte ich bald und wurde als boͤswillig be¬ zeichnet. Ueberall war dieſer unſelige Zwieſpalt zwi¬ ſchen klarem Zweck und ſcheinbarer Zweckloſigkeit, zwiſchen vorausgenommener Fertigkeit in dieſem

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854, S. 366. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854/380>, abgerufen am 17.05.2024.