Bescheidenheit, daß ich plötzlich unternahm, das Bild mit meinen Wasserfarben zu kopiren. Ich stellte es auf den Tisch, spannte einen Bogen Papier auf ein Brett und umgab mich mit alten Untertassen und Tellern; denn Scherben waren bei uns nicht zu finden. So rang ich mehrere Tage lang auf das mühseligste mit meiner Auf¬ gabe; aber ich fühlte mich glücklich, eine so wich¬ tige und andauernde Arbeit vor mir zu haben, vom frühen Morgen bis zur Dämmerung saß ich daran und nahm mir kaum Zeit zum Essen. Der Frieden, welcher in dem gutgemeinten Bilde athmete, stieg auch in meine Seele und mochte von meinem Gesichte auf die Mutter hinüber¬ scheinen, welche am Fenster saß und nähte. Noch weniger, als ich den Abstand des Originales von der Natur fühlte, störte mich die unendliche Kluft zwischen meinem Werke und seinem Vorbilde. Es war ein formloses, wolliges Geflecksel, in wel¬ chem der gänzliche Mangel jeder Zeichnung sich innig mit dem unbeherrschten Materiale vermählte; wenn man jedoch das Ganze aus einer tüchtigen Entfernung mit dem Oelbilde vergleicht, so kann
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Beſcheidenheit, daß ich ploͤtzlich unternahm, das Bild mit meinen Waſſerfarben zu kopiren. Ich ſtellte es auf den Tiſch, ſpannte einen Bogen Papier auf ein Brett und umgab mich mit alten Untertaſſen und Tellern; denn Scherben waren bei uns nicht zu finden. So rang ich mehrere Tage lang auf das muͤhſeligſte mit meiner Auf¬ gabe; aber ich fuͤhlte mich gluͤcklich, eine ſo wich¬ tige und andauernde Arbeit vor mir zu haben, vom fruͤhen Morgen bis zur Daͤmmerung ſaß ich daran und nahm mir kaum Zeit zum Eſſen. Der Frieden, welcher in dem gutgemeinten Bilde athmete, ſtieg auch in meine Seele und mochte von meinem Geſichte auf die Mutter hinuͤber¬ ſcheinen, welche am Fenſter ſaß und naͤhte. Noch weniger, als ich den Abſtand des Originales von der Natur fuͤhlte, ſtoͤrte mich die unendliche Kluft zwiſchen meinem Werke und ſeinem Vorbilde. Es war ein formloſes, wolliges Gefleckſel, in wel¬ chem der gaͤnzliche Mangel jeder Zeichnung ſich innig mit dem unbeherrſchten Materiale vermaͤhlte; wenn man jedoch das Ganze aus einer tuͤchtigen Entfernung mit dem Oelbilde vergleicht, ſo kann
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Beſcheidenheit, daß ich ploͤtzlich unternahm, das
Bild mit meinen Waſſerfarben zu kopiren. Ich
ſtellte es auf den Tiſch, ſpannte einen Bogen
Papier auf ein Brett und umgab mich mit alten
Untertaſſen und Tellern; denn Scherben waren
bei uns nicht zu finden. So rang ich mehrere
Tage lang auf das muͤhſeligſte mit meiner Auf¬
gabe; aber ich fuͤhlte mich gluͤcklich, eine ſo wich¬
tige und andauernde Arbeit vor mir zu haben,
vom fruͤhen Morgen bis zur Daͤmmerung ſaß
ich daran und nahm mir kaum Zeit zum Eſſen.
Der Frieden, welcher in dem gutgemeinten Bilde
athmete, ſtieg auch in meine Seele und mochte
von meinem Geſichte auf die Mutter hinuͤber¬
ſcheinen, welche am Fenſter ſaß und naͤhte. Noch
weniger, als ich den Abſtand des Originales von
der Natur fuͤhlte, ſtoͤrte mich die unendliche Kluft
zwiſchen meinem Werke und ſeinem Vorbilde.
Es war ein formloſes, wolliges Gefleckſel, in wel¬
chem der gaͤnzliche Mangel jeder Zeichnung ſich
innig mit dem unbeherrſchten Materiale vermaͤhlte;
wenn man jedoch das Ganze aus einer tuͤchtigen
Entfernung mit dem Oelbilde vergleicht, ſo kann
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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854, S. 337. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854/351>, abgerufen am 25.11.2024.
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