wenn sie gefehlt haben oder sonst in Conflict ge¬ rathen, bei der leisesten Berührung oder schon bei deren Annäherung in ein abscheuliches Zeter¬ geschrei ausbrechen, das Einem die Ohren zer¬ reißt; und wenn solche Kinder gerade dieses Ge¬ schreies wegen oft doppelte Schläge bekommen, so litt ich am entgegengesetzten Extrem und ver¬ schlimmerte meine Händel stets dadurch, daß ich nicht im Stande war, eine einzige Thräne zu vergießen vor meinen Richtern. Als daher der Schulmeister sah, daß ich nur erstaunt nach mei¬ nem Kopfe langte, ohne zu weinen, fiel er noch einmal über mich her, um mir den vermeintlichen Trotz und die Verstocktheit gründlich auszutrei¬ ben. Ich litt nun wirklich; anstatt aber in ein Geheul auszubrechen, ward es zum zweiten Male in mir klar und ich rief flehendlich in meiner Angst: Sondern erlöse uns von dem Bösen! und hatte dabei Gott vor Augen, von dem man mir so oft gesagt hatte, daß er dem Bedrängten ein hülfreicher Vater sei. Für den guten Lehrer aber war dies zu stark, der Fall war nun zum außer¬ ordentlichen Ereignisse gediehen, und er ließ mich
wenn ſie gefehlt haben oder ſonſt in Conflict ge¬ rathen, bei der leiſeſten Beruͤhrung oder ſchon bei deren Annaͤherung in ein abſcheuliches Zeter¬ geſchrei ausbrechen, das Einem die Ohren zer¬ reißt; und wenn ſolche Kinder gerade dieſes Ge¬ ſchreies wegen oft doppelte Schlaͤge bekommen, ſo litt ich am entgegengeſetzten Extrem und ver¬ ſchlimmerte meine Haͤndel ſtets dadurch, daß ich nicht im Stande war, eine einzige Thraͤne zu vergießen vor meinen Richtern. Als daher der Schulmeiſter ſah, daß ich nur erſtaunt nach mei¬ nem Kopfe langte, ohne zu weinen, fiel er noch einmal uͤber mich her, um mir den vermeintlichen Trotz und die Verſtocktheit gruͤndlich auszutrei¬ ben. Ich litt nun wirklich; anſtatt aber in ein Geheul auszubrechen, ward es zum zweiten Male in mir klar und ich rief flehendlich in meiner Angſt: Sondern erloͤſe uns von dem Boͤſen! und hatte dabei Gott vor Augen, von dem man mir ſo oft geſagt hatte, daß er dem Bedraͤngten ein huͤlfreicher Vater ſei. Fuͤr den guten Lehrer aber war dies zu ſtark, der Fall war nun zum außer¬ ordentlichen Ereigniſſe gediehen, und er ließ mich
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wenn ſie gefehlt haben oder ſonſt in Conflict ge¬
rathen, bei der leiſeſten Beruͤhrung oder ſchon bei
deren Annaͤherung in ein abſcheuliches Zeter¬
geſchrei ausbrechen, das Einem die Ohren zer¬
reißt; und wenn ſolche Kinder gerade dieſes Ge¬
ſchreies wegen oft doppelte Schlaͤge bekommen, ſo
litt ich am entgegengeſetzten Extrem und ver¬
ſchlimmerte meine Haͤndel ſtets dadurch, daß ich
nicht im Stande war, eine einzige Thraͤne zu
vergießen vor meinen Richtern. Als daher der
Schulmeiſter ſah, daß ich nur erſtaunt nach mei¬
nem Kopfe langte, ohne zu weinen, fiel er noch
einmal uͤber mich her, um mir den vermeintlichen
Trotz und die Verſtocktheit gruͤndlich auszutrei¬
ben. Ich litt nun wirklich; anſtatt aber in ein
Geheul auszubrechen, ward es zum zweiten Male
in mir klar und ich rief flehendlich in meiner
Angſt: Sondern erloͤſe uns von dem Boͤſen! und
hatte dabei Gott vor Augen, von dem man mir
ſo oft geſagt hatte, daß er dem Bedraͤngten ein
huͤlfreicher Vater ſei. Fuͤr den guten Lehrer aber
war dies zu ſtark, der Fall war nun zum außer¬
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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854, S. 136. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854/150>, abgerufen am 16.02.2025.
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