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Keller, Gottfried: Romeo und Julia auf dem Dorfe. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 3. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 233–348. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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ein Herz, auf dessen einer Seite ein Zettelchen klebte mit den Worten:

Ein süßer Mandelkern steckt in dem Herze hier, Doch süßer als der Mandelkern ist meine Lieb' zu dir.

Und auf der andern Seite:

Wenn du dies Herz gegessen, vergiß dies Sprüchlein nicht: Viel eh'r als meine Liebe mein braunes Auge bricht!

Sie lasen eifrig die Sprüche, und nie ist etwas Gereimtes und Gedrucktes schöner befunden und tiefer empfunden worden, als diese Pfefferkuchensprüche; sie hielten, was sie lasen, in besonderer Absicht auf sich gemacht, so gut schien es ihnen zu passen. Ach, seufzte Vrenchen, du schenkst mir ein Haus! Ich habe dir auch eines und erst das wahre geschenkt; denn unser Herz ist jetzt unser Haus, darin wir wohnen, und wir tragen so unsere Wohnung mit uns, wie die Schnecken! Andere haben wir nicht! -- Dann sind wir aber zwei Schnecken, von denen jede das Häuschen der andern trägt, sagte Sali, und Vrenchen erwiderte: Desto weniger dürfen wir von einander gehen, damit Jedes seiner Wohnung nah bleibt! -- Doch wußten sie nicht, daß sie in ihren Reden eben so artige Witze machten, als auf den vielfach geformten Lebkuchen zu lesen waren, und fuhren fort, diese süße, einfache Liebesliteratur zu studiren, die da ausgebreitet lag und besonders auf vielfach verzierte kleine und große Herzen geklebt war. Alles dünkte sie schön und einzig zu-

ein Herz, auf dessen einer Seite ein Zettelchen klebte mit den Worten:

Ein süßer Mandelkern steckt in dem Herze hier, Doch süßer als der Mandelkern ist meine Lieb' zu dir.

Und auf der andern Seite:

Wenn du dies Herz gegessen, vergiß dies Sprüchlein nicht: Viel eh'r als meine Liebe mein braunes Auge bricht!

Sie lasen eifrig die Sprüche, und nie ist etwas Gereimtes und Gedrucktes schöner befunden und tiefer empfunden worden, als diese Pfefferkuchensprüche; sie hielten, was sie lasen, in besonderer Absicht auf sich gemacht, so gut schien es ihnen zu passen. Ach, seufzte Vrenchen, du schenkst mir ein Haus! Ich habe dir auch eines und erst das wahre geschenkt; denn unser Herz ist jetzt unser Haus, darin wir wohnen, und wir tragen so unsere Wohnung mit uns, wie die Schnecken! Andere haben wir nicht! — Dann sind wir aber zwei Schnecken, von denen jede das Häuschen der andern trägt, sagte Sali, und Vrenchen erwiderte: Desto weniger dürfen wir von einander gehen, damit Jedes seiner Wohnung nah bleibt! — Doch wußten sie nicht, daß sie in ihren Reden eben so artige Witze machten, als auf den vielfach geformten Lebkuchen zu lesen waren, und fuhren fort, diese süße, einfache Liebesliteratur zu studiren, die da ausgebreitet lag und besonders auf vielfach verzierte kleine und große Herzen geklebt war. Alles dünkte sie schön und einzig zu-

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[0099] ein Herz, auf dessen einer Seite ein Zettelchen klebte mit den Worten: Ein süßer Mandelkern steckt in dem Herze hier, Doch süßer als der Mandelkern ist meine Lieb' zu dir. Und auf der andern Seite: Wenn du dies Herz gegessen, vergiß dies Sprüchlein nicht: Viel eh'r als meine Liebe mein braunes Auge bricht! Sie lasen eifrig die Sprüche, und nie ist etwas Gereimtes und Gedrucktes schöner befunden und tiefer empfunden worden, als diese Pfefferkuchensprüche; sie hielten, was sie lasen, in besonderer Absicht auf sich gemacht, so gut schien es ihnen zu passen. Ach, seufzte Vrenchen, du schenkst mir ein Haus! Ich habe dir auch eines und erst das wahre geschenkt; denn unser Herz ist jetzt unser Haus, darin wir wohnen, und wir tragen so unsere Wohnung mit uns, wie die Schnecken! Andere haben wir nicht! — Dann sind wir aber zwei Schnecken, von denen jede das Häuschen der andern trägt, sagte Sali, und Vrenchen erwiderte: Desto weniger dürfen wir von einander gehen, damit Jedes seiner Wohnung nah bleibt! — Doch wußten sie nicht, daß sie in ihren Reden eben so artige Witze machten, als auf den vielfach geformten Lebkuchen zu lesen waren, und fuhren fort, diese süße, einfache Liebesliteratur zu studiren, die da ausgebreitet lag und besonders auf vielfach verzierte kleine und große Herzen geklebt war. Alles dünkte sie schön und einzig zu-

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T12:34:29Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T12:34:29Z)

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Romeo und Julia auf dem Dorfe. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 3. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 233–348. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_dorfe_1910/99>, abgerufen am 22.11.2024.