Söhnchens zu befriedigen. Sie erzählte öfters, daß sie eines Tages, als sie ihre Tochter an der Brust hat- te, vor Kummer zur Nachbarin herüber gegangen sey; sie fand die Leute eben beim Mittagsessen, welches vor ihnen in einer großen Schüssel voll gebackenen Obst mit Klößen und geräuchertem Fleische rauchte. Sie grüßte die Nachbarn, welche ihr dankten und sie stehn ließen, ohne ihr etwas anzubieten. Ihr Hunger ward durch den Reiz der vollen Schüssel aufs äußerste em- pört; aber sie bekam nichts, und mit Thränen des Mangels und der Beschämung ging sie wieder an ih- ren leeren Heerd zurück.
Mit ihren Kleidern war es eben so beschaffen, wie mit ihrer Küche; sie hatte kaum sich nothdürftig zu bedecken, und ging deswegen nur immer in den Früh- predigten in die Kirche, wo sie sich hinter einen Pfei- ler stellte, weil sie sich vor den Leuten ihrer Armuth schämte. Dennoch war sie glücklich, wenn sie bei Frost und Mangel nur den Prediger hören konnte. Voll von seiner sanften Rede kam sie dann nach Hause, und setzte dasjenige, was sie aus seiner Predigt behalten hatte, in Verse. Dies that sie lange für sich selbst, aus bloßem Drang zum Schreiben; allein einsmals kam sie auf den Gedanken, eine solche versificirte Pre- digt dem Pastor zu übergeben, aber auf welche Weise? Sie, welche sich vor andern Leuten wegen ihres arm-
e
Soͤhnchens zu befriedigen. Sie erzaͤhlte oͤfters, daß ſie eines Tages, als ſie ihre Tochter an der Bruſt hat- te, vor Kummer zur Nachbarin heruͤber gegangen ſey; ſie fand die Leute eben beim Mittagseſſen, welches vor ihnen in einer großen Schuͤſſel voll gebackenen Obſt mit Kloͤßen und geraͤuchertem Fleiſche rauchte. Sie gruͤßte die Nachbarn, welche ihr dankten und ſie ſtehn ließen, ohne ihr etwas anzubieten. Ihr Hunger ward durch den Reiz der vollen Schuͤſſel aufs aͤußerſte em- poͤrt; aber ſie bekam nichts, und mit Thraͤnen des Mangels und der Beſchaͤmung ging ſie wieder an ih- ren leeren Heerd zuruͤck.
Mit ihren Kleidern war es eben ſo beſchaffen, wie mit ihrer Kuͤche; ſie hatte kaum ſich nothduͤrftig zu bedecken, und ging deswegen nur immer in den Fruͤh- predigten in die Kirche, wo ſie ſich hinter einen Pfei- ler ſtellte, weil ſie ſich vor den Leuten ihrer Armuth ſchaͤmte. Dennoch war ſie gluͤcklich, wenn ſie bei Froſt und Mangel nur den Prediger hoͤren konnte. Voll von ſeiner ſanften Rede kam ſie dann nach Hauſe, und ſetzte dasjenige, was ſie aus ſeiner Predigt behalten hatte, in Verſe. Dies that ſie lange fuͤr ſich ſelbſt, aus bloßem Drang zum Schreiben; allein einsmals kam ſie auf den Gedanken, eine ſolche verſificirte Pre- digt dem Paſtor zu uͤbergeben, aber auf welche Weiſe? Sie, welche ſich vor andern Leuten wegen ihres arm-
e
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0097"n="65"/>
Soͤhnchens zu befriedigen. Sie erzaͤhlte oͤfters, daß<lb/>ſie eines Tages, als ſie ihre Tochter an der Bruſt hat-<lb/>
te, vor Kummer zur Nachbarin heruͤber gegangen ſey;<lb/>ſie fand die Leute eben beim Mittagseſſen, welches vor<lb/>
ihnen in einer großen Schuͤſſel voll gebackenen Obſt<lb/>
mit Kloͤßen und geraͤuchertem Fleiſche rauchte. Sie<lb/>
gruͤßte die Nachbarn, welche ihr dankten und ſie ſtehn<lb/>
ließen, ohne ihr etwas anzubieten. Ihr Hunger ward<lb/>
durch den Reiz der vollen Schuͤſſel aufs aͤußerſte em-<lb/>
poͤrt; aber ſie bekam nichts, und mit Thraͤnen des<lb/>
Mangels und der Beſchaͤmung ging ſie wieder an ih-<lb/>
ren leeren Heerd zuruͤck.</p><lb/><p>Mit ihren Kleidern war es eben ſo beſchaffen, wie<lb/>
mit ihrer Kuͤche; ſie hatte kaum ſich nothduͤrftig zu<lb/>
bedecken, und ging deswegen nur immer in den Fruͤh-<lb/>
predigten in die Kirche, wo ſie ſich hinter einen Pfei-<lb/>
ler ſtellte, weil ſie ſich vor den Leuten ihrer Armuth<lb/>ſchaͤmte. Dennoch war ſie gluͤcklich, wenn ſie bei Froſt<lb/>
und Mangel nur den Prediger hoͤren konnte. Voll<lb/>
von ſeiner ſanften Rede kam ſie dann nach Hauſe, und<lb/>ſetzte dasjenige, was ſie aus ſeiner Predigt behalten<lb/>
hatte, in Verſe. Dies that ſie lange fuͤr ſich ſelbſt,<lb/>
aus bloßem Drang zum Schreiben; allein einsmals<lb/>
kam ſie auf den Gedanken, eine ſolche verſificirte Pre-<lb/>
digt dem Paſtor zu uͤbergeben, aber auf welche Weiſe?<lb/>
Sie, welche ſich vor andern Leuten wegen ihres arm-<lb/><fwplace="bottom"type="sig">e</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[65/0097]
Soͤhnchens zu befriedigen. Sie erzaͤhlte oͤfters, daß
ſie eines Tages, als ſie ihre Tochter an der Bruſt hat-
te, vor Kummer zur Nachbarin heruͤber gegangen ſey;
ſie fand die Leute eben beim Mittagseſſen, welches vor
ihnen in einer großen Schuͤſſel voll gebackenen Obſt
mit Kloͤßen und geraͤuchertem Fleiſche rauchte. Sie
gruͤßte die Nachbarn, welche ihr dankten und ſie ſtehn
ließen, ohne ihr etwas anzubieten. Ihr Hunger ward
durch den Reiz der vollen Schuͤſſel aufs aͤußerſte em-
poͤrt; aber ſie bekam nichts, und mit Thraͤnen des
Mangels und der Beſchaͤmung ging ſie wieder an ih-
ren leeren Heerd zuruͤck.
Mit ihren Kleidern war es eben ſo beſchaffen, wie
mit ihrer Kuͤche; ſie hatte kaum ſich nothduͤrftig zu
bedecken, und ging deswegen nur immer in den Fruͤh-
predigten in die Kirche, wo ſie ſich hinter einen Pfei-
ler ſtellte, weil ſie ſich vor den Leuten ihrer Armuth
ſchaͤmte. Dennoch war ſie gluͤcklich, wenn ſie bei Froſt
und Mangel nur den Prediger hoͤren konnte. Voll
von ſeiner ſanften Rede kam ſie dann nach Hauſe, und
ſetzte dasjenige, was ſie aus ſeiner Predigt behalten
hatte, in Verſe. Dies that ſie lange fuͤr ſich ſelbſt,
aus bloßem Drang zum Schreiben; allein einsmals
kam ſie auf den Gedanken, eine ſolche verſificirte Pre-
digt dem Paſtor zu uͤbergeben, aber auf welche Weiſe?
Sie, welche ſich vor andern Leuten wegen ihres arm-
e
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Karsch, Anna Luise: Gedichte. Berlin, 1792, S. 65. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/karsch_gedichte_1792/97>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.