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Karsch, Anna Luise: Gedichte. Berlin, 1792.

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eine ehrliche Frau. Die Tochter folgte also, weil
die Mutter es so wollte, oder vielmehr, weil ihr
Schicksal sie auf diesen neuen Kummerberg trieb.
Sie kam mit schwerem Herzen ins Dorf zurück, und
verlobte sich mit ihrem Freyer. Beide nahmen dar-
auf ihre wenigen Habseligkeiten, nebst dem kleinen
drei vierteljährigen Hirsekorn, und wanderten auf gut
Glück nach Fraustadt in Polen', wo er sich wohnhaft
niederließ, und mit seiner Braut getraut wurde. Nach-
dem er ihr Mann geworden war, fand sie ihn aus
Vernunft erträglich, und ihre Ehe würde ziemlich leid-
lich gewesen seyn, wenn er nicht zuweilen den Trunk
geliebt hätte. Da ihr erster Mann äußerst mäßig
gelebt hatte, so war ihr die Untugend des Karsches
um so mehr zuwider; und weil sie, theils durch Nä-
hen, theils durch Briefschreiben, zu welchem sich in
Fraustadt öfters Gelegenheit fand, ihn ernähren half,
so glaubte sie ein Recht zu haben, ihm wegen seiner
Lust zu trinken, Verweise geben zu können, beson-
ders da er im ersten halben Jahre ihres Ehestandes
nicht zum Trunke ausgegangen war, und Zeiten hatte,
wo er diese schädliche Gewohnheit lange lassen konnte.
Männer lassen sich nicht gern predigen; auch Karsch
empfand die Vorwürfe seiner Frau übel, und um ih-
nen zu entgehen, ging er abermals sich betrinken. Nun
vermehrten sich die Vorwürfe von beiden Seiten: Er

eine ehrliche Frau. Die Tochter folgte alſo, weil
die Mutter es ſo wollte, oder vielmehr, weil ihr
Schickſal ſie auf dieſen neuen Kummerberg trieb.
Sie kam mit ſchwerem Herzen ins Dorf zuruͤck, und
verlobte ſich mit ihrem Freyer. Beide nahmen dar-
auf ihre wenigen Habſeligkeiten, nebſt dem kleinen
drei vierteljaͤhrigen Hirſekorn, und wanderten auf gut
Gluͤck nach Frauſtadt in Polen’, wo er ſich wohnhaft
niederließ, und mit ſeiner Braut getraut wurde. Nach-
dem er ihr Mann geworden war, fand ſie ihn aus
Vernunft ertraͤglich, und ihre Ehe wuͤrde ziemlich leid-
lich geweſen ſeyn, wenn er nicht zuweilen den Trunk
geliebt haͤtte. Da ihr erſter Mann aͤußerſt maͤßig
gelebt hatte, ſo war ihr die Untugend des Karſches
um ſo mehr zuwider; und weil ſie, theils durch Naͤ-
hen, theils durch Briefſchreiben, zu welchem ſich in
Frauſtadt oͤfters Gelegenheit fand, ihn ernaͤhren half,
ſo glaubte ſie ein Recht zu haben, ihm wegen ſeiner
Luſt zu trinken, Verweiſe geben zu koͤnnen, beſon-
ders da er im erſten halben Jahre ihres Eheſtandes
nicht zum Trunke ausgegangen war, und Zeiten hatte,
wo er dieſe ſchaͤdliche Gewohnheit lange laſſen konnte.
Maͤnner laſſen ſich nicht gern predigen; auch Karſch
empfand die Vorwuͤrfe ſeiner Frau uͤbel, und um ih-
nen zu entgehen, ging er abermals ſich betrinken. Nun
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[63/0095] eine ehrliche Frau. Die Tochter folgte alſo, weil die Mutter es ſo wollte, oder vielmehr, weil ihr Schickſal ſie auf dieſen neuen Kummerberg trieb. Sie kam mit ſchwerem Herzen ins Dorf zuruͤck, und verlobte ſich mit ihrem Freyer. Beide nahmen dar- auf ihre wenigen Habſeligkeiten, nebſt dem kleinen drei vierteljaͤhrigen Hirſekorn, und wanderten auf gut Gluͤck nach Frauſtadt in Polen’, wo er ſich wohnhaft niederließ, und mit ſeiner Braut getraut wurde. Nach- dem er ihr Mann geworden war, fand ſie ihn aus Vernunft ertraͤglich, und ihre Ehe wuͤrde ziemlich leid- lich geweſen ſeyn, wenn er nicht zuweilen den Trunk geliebt haͤtte. Da ihr erſter Mann aͤußerſt maͤßig gelebt hatte, ſo war ihr die Untugend des Karſches um ſo mehr zuwider; und weil ſie, theils durch Naͤ- hen, theils durch Briefſchreiben, zu welchem ſich in Frauſtadt oͤfters Gelegenheit fand, ihn ernaͤhren half, ſo glaubte ſie ein Recht zu haben, ihm wegen ſeiner Luſt zu trinken, Verweiſe geben zu koͤnnen, beſon- ders da er im erſten halben Jahre ihres Eheſtandes nicht zum Trunke ausgegangen war, und Zeiten hatte, wo er dieſe ſchaͤdliche Gewohnheit lange laſſen konnte. Maͤnner laſſen ſich nicht gern predigen; auch Karſch empfand die Vorwuͤrfe ſeiner Frau uͤbel, und um ih- nen zu entgehen, ging er abermals ſich betrinken. Nun vermehrten ſich die Vorwuͤrfe von beiden Seiten: Er

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Zitationshilfe: Karsch, Anna Luise: Gedichte. Berlin, 1792, S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/karsch_gedichte_1792/95>, abgerufen am 24.11.2024.