ohne ihre Antwort abzuwarten, ging er in seine Kammer.
Ihr Zustand war schrecklich; sie liebte ihren Mann und hatte Brod und Ansehn von ihm; ihre Mutter konnte ihr keinen Schutz geben, weil sie selbst in der niederdrückendsten Lage war, und dazu lieber den Tod an ihr Herz geschlossen hätte, als eine durch die Schei- dung an ihrem Namen gebrandmarkte Tochter. Das alles fühlte die Dichterin, ihr war es nicht unbekannt, welche Schande auf dem Worte Scheidung lag; man nagte und quälte sich lieber in einer lebenslangen Ehe, als daß man an eine vernünftige Trennung un- ter beiden Theilen hätte denken wollen. Und solcher Schande sollte sie sich vor allen im Lande zuerst Preis geben? dazu kam noch die Last ihres leiblichen Zustan- des; und keinen Zufluchtsort, keinen Freund, kein Obdach, keinen gewissen Unterhalt! -- Alle diese Vor- stellungen zusammengedrängt warfen auf das Vorha- ben ihres Mannes so etwas Unmenschliches, daß es ihr unmöglich schien, daß er so abscheulich seyn und es ausführen könnte. Dieser Schluß beruhigte sie eini- germaßen bis am Morgen. Sobald sie ihren Mann ansichtig wurde, bat sie ihn mit den rührendsten Aus- drücken des Schmerzes und mit allen Vorstellungen ihres Zustandes: daß er doch den Gedanken zur Schei- dung aufgeben möchte, sie zerfloß fast in Thränen vor
ohne ihre Antwort abzuwarten, ging er in ſeine Kammer.
Ihr Zuſtand war ſchrecklich; ſie liebte ihren Mann und hatte Brod und Anſehn von ihm; ihre Mutter konnte ihr keinen Schutz geben, weil ſie ſelbſt in der niederdruͤckendſten Lage war, und dazu lieber den Tod an ihr Herz geſchloſſen haͤtte, als eine durch die Schei- dung an ihrem Namen gebrandmarkte Tochter. Das alles fuͤhlte die Dichterin, ihr war es nicht unbekannt, welche Schande auf dem Worte Scheidung lag; man nagte und quaͤlte ſich lieber in einer lebenslangen Ehe, als daß man an eine vernuͤnftige Trennung un- ter beiden Theilen haͤtte denken wollen. Und ſolcher Schande ſollte ſie ſich vor allen im Lande zuerſt Preis geben? dazu kam noch die Laſt ihres leiblichen Zuſtan- des; und keinen Zufluchtsort, keinen Freund, kein Obdach, keinen gewiſſen Unterhalt! — Alle dieſe Vor- ſtellungen zuſammengedraͤngt warfen auf das Vorha- ben ihres Mannes ſo etwas Unmenſchliches, daß es ihr unmoͤglich ſchien, daß er ſo abſcheulich ſeyn und es ausfuͤhren koͤnnte. Dieſer Schluß beruhigte ſie eini- germaßen bis am Morgen. Sobald ſie ihren Mann anſichtig wurde, bat ſie ihn mit den ruͤhrendſten Aus- druͤcken des Schmerzes und mit allen Vorſtellungen ihres Zuſtandes: daß er doch den Gedanken zur Schei- dung aufgeben moͤchte, ſie zerfloß faſt in Thraͤnen vor
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ohne ihre Antwort abzuwarten, ging er in ſeine
Kammer.
Ihr Zuſtand war ſchrecklich; ſie liebte ihren Mann
und hatte Brod und Anſehn von ihm; ihre Mutter
konnte ihr keinen Schutz geben, weil ſie ſelbſt in der
niederdruͤckendſten Lage war, und dazu lieber den Tod
an ihr Herz geſchloſſen haͤtte, als eine durch die Schei-
dung an ihrem Namen gebrandmarkte Tochter. Das
alles fuͤhlte die Dichterin, ihr war es nicht unbekannt,
welche Schande auf dem Worte Scheidung lag;
man nagte und quaͤlte ſich lieber in einer lebenslangen
Ehe, als daß man an eine vernuͤnftige Trennung un-
ter beiden Theilen haͤtte denken wollen. Und ſolcher
Schande ſollte ſie ſich vor allen im Lande zuerſt Preis
geben? dazu kam noch die Laſt ihres leiblichen Zuſtan-
des; und keinen Zufluchtsort, keinen Freund, kein
Obdach, keinen gewiſſen Unterhalt! — Alle dieſe Vor-
ſtellungen zuſammengedraͤngt warfen auf das Vorha-
ben ihres Mannes ſo etwas Unmenſchliches, daß es
ihr unmoͤglich ſchien, daß er ſo abſcheulich ſeyn und es
ausfuͤhren koͤnnte. Dieſer Schluß beruhigte ſie eini-
germaßen bis am Morgen. Sobald ſie ihren Mann
anſichtig wurde, bat ſie ihn mit den ruͤhrendſten Aus-
druͤcken des Schmerzes und mit allen Vorſtellungen
ihres Zuſtandes: daß er doch den Gedanken zur Schei-
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Karsch, Anna Luise: Gedichte. Berlin, 1792, S. 54. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/karsch_gedichte_1792/86>, abgerufen am 21.11.2024.
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