nun vor gänzlichen Müßiggang zu bewahren, wurden ihr von der Mutter drei Rinder vertraut, welche sie täglich auf die Weide, die weit entfernt lag und zu ihrer Pacht gehörte, treiben mußte. So unwürdig ein solches Geschäft für eine Karschin scheint, so erin- nerte sie sich desselben doch niemals ohne Vergnügen, und hielt die Jahre ihrer Hirtenschaft für die schön- sten ihres Lebens. Die Freiheit, welcher sie hier ge- noß, die herrliche blühende Natur um sie her, die mit Bächen durchschlungenen Wiesen, und die liebliche Ruhe, welche hier überall ausgebreitet lag -- erfüll- ten ihre Seele mit tausend schönen Bildern, von wel- chen sie selbst die Schöpferin war. Und welcher Stand befriedigt auch wol mehr das Herz, als der Hirten- stand, in welchem die Patriarchen Könige waren, und die höchsten Dichter sich das goldene Zeitalter träumten?
Sie war im dreizehnten Jahre, als sie mit ihrer kleinen Heerde zuerst die graßreichen Triften betrat. Hier empfand sie mehr als jemals den Drang denken- der Vorstellungen, welchen sie so gern in Bilder über- getragen, wenn sie nur gewußt hätte, wie? Sie hatte weder ein Buch zum Lesen, noch Geräth zum Schreiben, noch jemanden, an welchen sie ihre Gedan- ken hätte richten können. So brachte sie ihre Zeit in Gesellschaft ihrer Rinder mit bloßen Phantasien hin. Eines Tages aber, als sie so in sich selbst vertieft ihren
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nun vor gaͤnzlichen Muͤßiggang zu bewahren, wurden ihr von der Mutter drei Rinder vertraut, welche ſie taͤglich auf die Weide, die weit entfernt lag und zu ihrer Pacht gehoͤrte, treiben mußte. So unwuͤrdig ein ſolches Geſchaͤft fuͤr eine Karſchin ſcheint, ſo erin- nerte ſie ſich deſſelben doch niemals ohne Vergnuͤgen, und hielt die Jahre ihrer Hirtenſchaft fuͤr die ſchoͤn- ſten ihres Lebens. Die Freiheit, welcher ſie hier ge- noß, die herrliche bluͤhende Natur um ſie her, die mit Baͤchen durchſchlungenen Wieſen, und die liebliche Ruhe, welche hier uͤberall ausgebreitet lag — erfuͤll- ten ihre Seele mit tauſend ſchoͤnen Bildern, von wel- chen ſie ſelbſt die Schoͤpferin war. Und welcher Stand befriedigt auch wol mehr das Herz, als der Hirten- ſtand, in welchem die Patriarchen Koͤnige waren, und die hoͤchſten Dichter ſich das goldene Zeitalter traͤumten?
Sie war im dreizehnten Jahre, als ſie mit ihrer kleinen Heerde zuerſt die graßreichen Triften betrat. Hier empfand ſie mehr als jemals den Drang denken- der Vorſtellungen, welchen ſie ſo gern in Bilder uͤber- getragen, wenn ſie nur gewußt haͤtte, wie? Sie hatte weder ein Buch zum Leſen, noch Geraͤth zum Schreiben, noch jemanden, an welchen ſie ihre Gedan- ken haͤtte richten koͤnnen. So brachte ſie ihre Zeit in Geſellſchaft ihrer Rinder mit bloßen Phantaſien hin. Eines Tages aber, als ſie ſo in ſich ſelbſt vertieft ihren
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nun vor gaͤnzlichen Muͤßiggang zu bewahren, wurden
ihr von der Mutter drei Rinder vertraut, welche ſie
taͤglich auf die Weide, die weit entfernt lag und zu
ihrer Pacht gehoͤrte, treiben mußte. So unwuͤrdig
ein ſolches Geſchaͤft fuͤr eine Karſchin ſcheint, ſo erin-
nerte ſie ſich deſſelben doch niemals ohne Vergnuͤgen,
und hielt die Jahre ihrer Hirtenſchaft fuͤr die ſchoͤn-
ſten ihres Lebens. Die Freiheit, welcher ſie hier ge-
noß, die herrliche bluͤhende Natur um ſie her, die mit
Baͤchen durchſchlungenen Wieſen, und die liebliche
Ruhe, welche hier uͤberall ausgebreitet lag — erfuͤll-
ten ihre Seele mit tauſend ſchoͤnen Bildern, von wel-
chen ſie ſelbſt die Schoͤpferin war. Und welcher Stand
befriedigt auch wol mehr das Herz, als der Hirten-
ſtand, in welchem die Patriarchen Koͤnige waren, und die
hoͤchſten Dichter ſich das goldene Zeitalter traͤumten?
Sie war im dreizehnten Jahre, als ſie mit ihrer
kleinen Heerde zuerſt die graßreichen Triften betrat.
Hier empfand ſie mehr als jemals den Drang denken-
der Vorſtellungen, welchen ſie ſo gern in Bilder uͤber-
getragen, wenn ſie nur gewußt haͤtte, wie? Sie
hatte weder ein Buch zum Leſen, noch Geraͤth zum
Schreiben, noch jemanden, an welchen ſie ihre Gedan-
ken haͤtte richten koͤnnen. So brachte ſie ihre Zeit
in Geſellſchaft ihrer Rinder mit bloßen Phantaſien hin.
Eines Tages aber, als ſie ſo in ſich ſelbſt vertieft ihren
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Karsch, Anna Luise: Gedichte. Berlin, 1792, S. 23. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/karsch_gedichte_1792/55>, abgerufen am 21.11.2024.
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