Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Karsch, Anna Luise: Gedichte. Berlin, 1792.

Bild:
<< vorherige Seite

sie wieder die Welt vermehren sollte, sah es zwar nicht
ungern, daß ihre Tochter Lesen, Schreiben und Rech-
nen gelernt hatte, allein wegen des Lateinischen war
sie mit ihrer Mutter ganz einerlei Meinung. Um
also einer Hirnzerrüttung vorzubeugen, eilte sie selbst
zu ihrem Vetter, um ihre Tochter, welche jezt ins zehnte
Jahr ging, wieder zu sich zu holen. Unter dem Vor-
wande, daß sie dieselbe nächstens bei der Wiege brau-
chen würde, halfen alle Bitten und alle Gegenvorstel-
lungen des Oheims nichts; sie glaubte hier nach Pflicht
und beßrer Einsicht zu handeln, und die Trennung
zwischen Onkel und Nichte geschah nicht ohne Schmerz
und Thränen, wie man leicht denken kann. Seit die-
sem Augenblicke gehen die widrigen Schicksale der
Dichterin an, nnd diese Eine Trennung hatte Folgen,
deren Uebel noch über ihr Grab hinaus dauern.

Kaum war sie einige Monathe zu Hause, als ihre
Mutter ihr einen Bruder zur Welt brachte, welchen
sie wiegen, warten und tragen mußte. Ihre Mutter
gab ihr dieses Geschäft blos, um ihr etwas zu thun zu
geben, denn sie befand sich vor jezt noch in so guten
Umständen, daß sie dem Kinde wol eine Magd hätte
halten können. Die kleine Dürbach, deren Herz, von
ihrem lieben Oheim getrennt, eine große Leere em-
pfand, gewann ihren Stiefbruder lieb, so viele Last
und Unruhen er ihr auch machte. Er soll als ein hüb-

ſie wieder die Welt vermehren ſollte, ſah es zwar nicht
ungern, daß ihre Tochter Leſen, Schreiben und Rech-
nen gelernt hatte, allein wegen des Lateiniſchen war
ſie mit ihrer Mutter ganz einerlei Meinung. Um
alſo einer Hirnzerruͤttung vorzubeugen, eilte ſie ſelbſt
zu ihrem Vetter, um ihre Tochter, welche jezt ins zehnte
Jahr ging, wieder zu ſich zu holen. Unter dem Vor-
wande, daß ſie dieſelbe naͤchſtens bei der Wiege brau-
chen wuͤrde, halfen alle Bitten und alle Gegenvorſtel-
lungen des Oheims nichts; ſie glaubte hier nach Pflicht
und beßrer Einſicht zu handeln, und die Trennung
zwiſchen Onkel und Nichte geſchah nicht ohne Schmerz
und Thraͤnen, wie man leicht denken kann. Seit die-
ſem Augenblicke gehen die widrigen Schickſale der
Dichterin an, nnd dieſe Eine Trennung hatte Folgen,
deren Uebel noch uͤber ihr Grab hinaus dauern.

Kaum war ſie einige Monathe zu Hauſe, als ihre
Mutter ihr einen Bruder zur Welt brachte, welchen
ſie wiegen, warten und tragen mußte. Ihre Mutter
gab ihr dieſes Geſchaͤft blos, um ihr etwas zu thun zu
geben, denn ſie befand ſich vor jezt noch in ſo guten
Umſtaͤnden, daß ſie dem Kinde wol eine Magd haͤtte
halten koͤnnen. Die kleine Duͤrbach, deren Herz, von
ihrem lieben Oheim getrennt, eine große Leere em-
pfand, gewann ihren Stiefbruder lieb, ſo viele Laſt
und Unruhen er ihr auch machte. Er ſoll als ein huͤb-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0052" n="20"/>
&#x017F;ie wieder die Welt vermehren &#x017F;ollte, &#x017F;ah es zwar nicht<lb/>
ungern, daß ihre Tochter Le&#x017F;en, Schreiben und Rech-<lb/>
nen gelernt hatte, allein wegen des Lateini&#x017F;chen war<lb/>
&#x017F;ie mit ihrer Mutter ganz einerlei Meinung. Um<lb/>
al&#x017F;o einer Hirnzerru&#x0364;ttung vorzubeugen, eilte &#x017F;ie &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
zu ihrem Vetter, um ihre Tochter, welche jezt ins zehnte<lb/>
Jahr ging, wieder zu &#x017F;ich zu holen. Unter dem Vor-<lb/>
wande, daß &#x017F;ie die&#x017F;elbe na&#x0364;ch&#x017F;tens bei der Wiege brau-<lb/>
chen wu&#x0364;rde, halfen alle Bitten und alle Gegenvor&#x017F;tel-<lb/>
lungen des Oheims nichts; &#x017F;ie glaubte hier nach Pflicht<lb/>
und beßrer Ein&#x017F;icht zu handeln, und die Trennung<lb/>
zwi&#x017F;chen Onkel und Nichte ge&#x017F;chah nicht ohne Schmerz<lb/>
und Thra&#x0364;nen, wie man leicht denken kann. Seit die-<lb/>
&#x017F;em Augenblicke gehen die widrigen Schick&#x017F;ale der<lb/>
Dichterin an, nnd die&#x017F;e Eine Trennung hatte Folgen,<lb/>
deren Uebel noch u&#x0364;ber ihr Grab hinaus dauern.</p><lb/>
        <p>Kaum war &#x017F;ie einige Monathe zu Hau&#x017F;e, als ihre<lb/>
Mutter ihr einen Bruder zur Welt brachte, welchen<lb/>
&#x017F;ie wiegen, warten und tragen mußte. Ihre Mutter<lb/>
gab ihr die&#x017F;es Ge&#x017F;cha&#x0364;ft blos, um ihr etwas zu thun zu<lb/>
geben, denn &#x017F;ie befand &#x017F;ich vor jezt noch in &#x017F;o guten<lb/>
Um&#x017F;ta&#x0364;nden, daß &#x017F;ie dem Kinde wol eine Magd ha&#x0364;tte<lb/>
halten ko&#x0364;nnen. Die kleine Du&#x0364;rbach, deren Herz, von<lb/>
ihrem lieben Oheim getrennt, eine große Leere em-<lb/>
pfand, gewann ihren Stiefbruder lieb, &#x017F;o viele La&#x017F;t<lb/>
und Unruhen er ihr auch machte. Er &#x017F;oll als ein hu&#x0364;b-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[20/0052] ſie wieder die Welt vermehren ſollte, ſah es zwar nicht ungern, daß ihre Tochter Leſen, Schreiben und Rech- nen gelernt hatte, allein wegen des Lateiniſchen war ſie mit ihrer Mutter ganz einerlei Meinung. Um alſo einer Hirnzerruͤttung vorzubeugen, eilte ſie ſelbſt zu ihrem Vetter, um ihre Tochter, welche jezt ins zehnte Jahr ging, wieder zu ſich zu holen. Unter dem Vor- wande, daß ſie dieſelbe naͤchſtens bei der Wiege brau- chen wuͤrde, halfen alle Bitten und alle Gegenvorſtel- lungen des Oheims nichts; ſie glaubte hier nach Pflicht und beßrer Einſicht zu handeln, und die Trennung zwiſchen Onkel und Nichte geſchah nicht ohne Schmerz und Thraͤnen, wie man leicht denken kann. Seit die- ſem Augenblicke gehen die widrigen Schickſale der Dichterin an, nnd dieſe Eine Trennung hatte Folgen, deren Uebel noch uͤber ihr Grab hinaus dauern. Kaum war ſie einige Monathe zu Hauſe, als ihre Mutter ihr einen Bruder zur Welt brachte, welchen ſie wiegen, warten und tragen mußte. Ihre Mutter gab ihr dieſes Geſchaͤft blos, um ihr etwas zu thun zu geben, denn ſie befand ſich vor jezt noch in ſo guten Umſtaͤnden, daß ſie dem Kinde wol eine Magd haͤtte halten koͤnnen. Die kleine Duͤrbach, deren Herz, von ihrem lieben Oheim getrennt, eine große Leere em- pfand, gewann ihren Stiefbruder lieb, ſo viele Laſt und Unruhen er ihr auch machte. Er ſoll als ein huͤb-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/karsch_gedichte_1792
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/karsch_gedichte_1792/52
Zitationshilfe: Karsch, Anna Luise: Gedichte. Berlin, 1792, S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/karsch_gedichte_1792/52>, abgerufen am 19.05.2024.