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Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790.

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I. Th. Critik der ästhetischen Urtheilskraft.
schränke. Daher ist er es gern zufrieden, daß, wenn er
sagt, der Canariensect ist angenehm, ihm ein anderer
den Ausdruck verbessern und ihn erinnere, er solle sa-
gen: er ist mir angenehm, und so nicht allein im Ge-
schmack der Zunge, des Gaumens und des Schlundes,
sondern auch dem, was für Augen und Ohren jedem an-
genehm seyn mag. Dem einen ist die violette Farbe sanft
und lieblich, dem andern todt und erstorben. Einer
liebt den Ton der Blasinstrumente, der andre den von
den Saiteninstrumenten. Darüber in der Absicht zu
streiten um das Urtheil anderer, welches von dem unsri-
gen verschieden ist, gleich als ob es diesem logisch entge-
gen gesetzt wäre, für unrichtig zu schelten, wäre Thor-
heit und in Ansehung des Angenehmen gilt der Grund-
satz: ein jeder hat seinen besondern Geschmack (der
Sinne).

Mit dem Schönen ist es ganz anders bewandt. Es
wäre (gerade umgekehrt) lächerlich, wenn jemand, der
sich auf seinen Geschmack etwas einbildete, sich damit zu
rechtfertigen gedächte, dieser Gegenstand (das Gebäude,
was wir sehen, das Kleid, was jener trägt, das Con-
cert, was wir hören, das Gedicht, welches zur Beur-
theilung aufgestellt ist,) ist für mich schön. Denn er
muß es nicht schön nennen, wenn es blos ihm gefällt.
Einen Reiz und Annehmlichkeit mag für ihn Vieles
haben, darum bekümmert sich niemand; wenn er aber
etwas für schön ausgiebt, so muthet er andern eben

B 2

I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
ſchraͤnke. Daher iſt er es gern zufrieden, daß, wenn er
ſagt, der Canarienſect iſt angenehm, ihm ein anderer
den Ausdruck verbeſſern und ihn erinnere, er ſolle ſa-
gen: er iſt mir angenehm, und ſo nicht allein im Ge-
ſchmack der Zunge, des Gaumens und des Schlundes,
ſondern auch dem, was fuͤr Augen und Ohren jedem an-
genehm ſeyn mag. Dem einen iſt die violette Farbe ſanft
und lieblich, dem andern todt und erſtorben. Einer
liebt den Ton der Blasinſtrumente, der andre den von
den Saiteninſtrumenten. Daruͤber in der Abſicht zu
ſtreiten um das Urtheil anderer, welches von dem unſri-
gen verſchieden iſt, gleich als ob es dieſem logiſch entge-
gen geſetzt waͤre, fuͤr unrichtig zu ſchelten, waͤre Thor-
heit und in Anſehung des Angenehmen gilt der Grund-
ſatz: ein jeder hat ſeinen beſondern Geſchmack (der
Sinne).

Mit dem Schoͤnen iſt es ganz anders bewandt. Es
waͤre (gerade umgekehrt) laͤcherlich, wenn jemand, der
ſich auf ſeinen Geſchmack etwas einbildete, ſich damit zu
rechtfertigen gedaͤchte, dieſer Gegenſtand (das Gebaͤude,
was wir ſehen, das Kleid, was jener traͤgt, das Con-
cert, was wir hoͤren, das Gedicht, welches zur Beur-
theilung aufgeſtellt iſt,) iſt fuͤr mich ſchoͤn. Denn er
muß es nicht ſchoͤn nennen, wenn es blos ihm gefaͤllt.
Einen Reiz und Annehmlichkeit mag fuͤr ihn Vieles
haben, darum bekuͤmmert ſich niemand; wenn er aber
etwas fuͤr ſchoͤn ausgiebt, ſo muthet er andern eben

B 2
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[19/0083] I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft. ſchraͤnke. Daher iſt er es gern zufrieden, daß, wenn er ſagt, der Canarienſect iſt angenehm, ihm ein anderer den Ausdruck verbeſſern und ihn erinnere, er ſolle ſa- gen: er iſt mir angenehm, und ſo nicht allein im Ge- ſchmack der Zunge, des Gaumens und des Schlundes, ſondern auch dem, was fuͤr Augen und Ohren jedem an- genehm ſeyn mag. Dem einen iſt die violette Farbe ſanft und lieblich, dem andern todt und erſtorben. Einer liebt den Ton der Blasinſtrumente, der andre den von den Saiteninſtrumenten. Daruͤber in der Abſicht zu ſtreiten um das Urtheil anderer, welches von dem unſri- gen verſchieden iſt, gleich als ob es dieſem logiſch entge- gen geſetzt waͤre, fuͤr unrichtig zu ſchelten, waͤre Thor- heit und in Anſehung des Angenehmen gilt der Grund- ſatz: ein jeder hat ſeinen beſondern Geſchmack (der Sinne). Mit dem Schoͤnen iſt es ganz anders bewandt. Es waͤre (gerade umgekehrt) laͤcherlich, wenn jemand, der ſich auf ſeinen Geſchmack etwas einbildete, ſich damit zu rechtfertigen gedaͤchte, dieſer Gegenſtand (das Gebaͤude, was wir ſehen, das Kleid, was jener traͤgt, das Con- cert, was wir hoͤren, das Gedicht, welches zur Beur- theilung aufgeſtellt iſt,) iſt fuͤr mich ſchoͤn. Denn er muß es nicht ſchoͤn nennen, wenn es blos ihm gefaͤllt. Einen Reiz und Annehmlichkeit mag fuͤr ihn Vieles haben, darum bekuͤmmert ſich niemand; wenn er aber etwas fuͤr ſchoͤn ausgiebt, ſo muthet er andern eben B 2

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Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790, S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/83>, abgerufen am 28.11.2024.