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Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790.

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I. Th. Critik der ästhetischen Urtheilskraft.
Antinomie der Vernunft in Ansehung des theoretischen Ge-
brauchs des Verstandes bis zum Unbedingten hinauf fürs
Erkenntnisvermögen, 2) eine Antinomie der Vernunft
in Ansehung des ästhetischen Gebrauchs der Urtheilskraft
fürs Gefühl der Lust und Unlust, 3) eine Antinomie in
Ansehung des practischeu Gebrauchs der an sich selbst gesetz-
gebenden Vernunft fürs Begehrungsvermögen: sofern
alle diese Vermögen ihre obere Principien a priori haben und,
gemäs einer unumgänglichen Forderung der Vernunft, nach
diesen Principien auch unbedingt müssen urtheilen und ihr
Object sollen bestimmen können.

Jn Anfehung zweyer Antinomien, der des theoretischen
und der des practischen Gebrauchs, jener obern Erkenntnis-
vermögen haben wir die Unvermeidlichkeit derselben, wenn
dergleichen Urtheile nicht auf ein übersinnliches Substrat der
gegebenen Objecte, als Erscheinungen, zurücksehen, dage-
gen aber auch die Auflöslichkeit derselben, sobald das letz-
tere geschieht, schon anderwärts gezeigt. Was nun die An-
tinomie im Gebrauche der Urtheilskraft, gemäs der Forde-
rung der Vernunft und deren hier gegebene Auflösung be-
trift, so giebts kein anderes Mittel derselben auszuweichen,
als entweder zu läugnen, daß dem ästhetischen Geschmacks-
urtheile irgend ein Princip a priori zum Grunde liege, daß
aller Anspruch auf Nothwendigkeit allgemeiner Beystimmung
grundloser leerer Wahn sey und ein Geschmacksurtheil nur
sofern für richtig gehalten zu werden verdienen, weil es sich
trift, daß viele in Ansehung desselben übereinkommen und
auch dieses eigentlich nicht um deswillen, weil man hinter
dieser Einstimmung ein Princip a priori vermuthet, sondern
(wie im Gaumengeschmack) weil die Subjecte zufälliger
Weise gleichförmig organisirt seyn: oder man müßte anneh-
men, daß das Geschmacksurtheil eigentlich ein verstecktes

Kants Crit. d. Urtheilskr. Q

I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
Antinomie der Vernunft in Anſehung des theoretiſchen Ge-
brauchs des Verſtandes bis zum Unbedingten hinauf fuͤrs
Erkenntnisvermoͤgen, 2) eine Antinomie der Vernunft
in Anſehung des aͤſthetiſchen Gebrauchs der Urtheilskraft
fuͤrs Gefuͤhl der Luſt und Unluſt, 3) eine Antinomie in
Anſehung des practiſcheu Gebrauchs der an ſich ſelbſt geſetz-
gebenden Vernunft fuͤrs Begehrungsvermoͤgen: ſofern
alle dieſe Vermoͤgen ihre obere Principien a priori haben und,
gemaͤs einer unumgaͤnglichen Forderung der Vernunft, nach
dieſen Principien auch unbedingt muͤſſen urtheilen und ihr
Object ſollen beſtimmen koͤnnen.

Jn Anfehung zweyer Antinomien, der des theoretiſchen
und der des practiſchen Gebrauchs, jener obern Erkenntnis-
vermoͤgen haben wir die Unvermeidlichkeit derſelben, wenn
dergleichen Urtheile nicht auf ein uͤberſinnliches Subſtrat der
gegebenen Objecte, als Erſcheinungen, zuruͤckſehen, dage-
gen aber auch die Aufloͤslichkeit derſelben, ſobald das letz-
tere geſchieht, ſchon anderwaͤrts gezeigt. Was nun die An-
tinomie im Gebrauche der Urtheilskraft, gemaͤs der Forde-
rung der Vernunft und deren hier gegebene Aufloͤſung be-
trift, ſo giebts kein anderes Mittel derſelben auszuweichen,
als entweder zu laͤugnen, daß dem aͤſthetiſchen Geſchmacks-
urtheile irgend ein Princip a priori zum Grunde liege, daß
aller Anſpruch auf Nothwendigkeit allgemeiner Beyſtimmung
grundloſer leerer Wahn ſey und ein Geſchmacksurtheil nur
ſofern fuͤr richtig gehalten zu werden verdienen, weil es ſich
trift, daß viele in Anſehung deſſelben uͤbereinkommen und
auch dieſes eigentlich nicht um deswillen, weil man hinter
dieſer Einſtimmung ein Princip a priori vermuthet, ſondern
(wie im Gaumengeſchmack) weil die Subjecte zufaͤlliger
Weiſe gleichfoͤrmig organiſirt ſeyn: oder man muͤßte anneh-
men, daß das Geſchmacksurtheil eigentlich ein verſtecktes

Kants Crit. d. Urtheilskr. Q
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[241/0305] I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft. Antinomie der Vernunft in Anſehung des theoretiſchen Ge- brauchs des Verſtandes bis zum Unbedingten hinauf fuͤrs Erkenntnisvermoͤgen, 2) eine Antinomie der Vernunft in Anſehung des aͤſthetiſchen Gebrauchs der Urtheilskraft fuͤrs Gefuͤhl der Luſt und Unluſt, 3) eine Antinomie in Anſehung des practiſcheu Gebrauchs der an ſich ſelbſt geſetz- gebenden Vernunft fuͤrs Begehrungsvermoͤgen: ſofern alle dieſe Vermoͤgen ihre obere Principien a priori haben und, gemaͤs einer unumgaͤnglichen Forderung der Vernunft, nach dieſen Principien auch unbedingt muͤſſen urtheilen und ihr Object ſollen beſtimmen koͤnnen. Jn Anfehung zweyer Antinomien, der des theoretiſchen und der des practiſchen Gebrauchs, jener obern Erkenntnis- vermoͤgen haben wir die Unvermeidlichkeit derſelben, wenn dergleichen Urtheile nicht auf ein uͤberſinnliches Subſtrat der gegebenen Objecte, als Erſcheinungen, zuruͤckſehen, dage- gen aber auch die Aufloͤslichkeit derſelben, ſobald das letz- tere geſchieht, ſchon anderwaͤrts gezeigt. Was nun die An- tinomie im Gebrauche der Urtheilskraft, gemaͤs der Forde- rung der Vernunft und deren hier gegebene Aufloͤſung be- trift, ſo giebts kein anderes Mittel derſelben auszuweichen, als entweder zu laͤugnen, daß dem aͤſthetiſchen Geſchmacks- urtheile irgend ein Princip a priori zum Grunde liege, daß aller Anſpruch auf Nothwendigkeit allgemeiner Beyſtimmung grundloſer leerer Wahn ſey und ein Geſchmacksurtheil nur ſofern fuͤr richtig gehalten zu werden verdienen, weil es ſich trift, daß viele in Anſehung deſſelben uͤbereinkommen und auch dieſes eigentlich nicht um deswillen, weil man hinter dieſer Einſtimmung ein Princip a priori vermuthet, ſondern (wie im Gaumengeſchmack) weil die Subjecte zufaͤlliger Weiſe gleichfoͤrmig organiſirt ſeyn: oder man muͤßte anneh- men, daß das Geſchmacksurtheil eigentlich ein verſtecktes Kants Crit. d. Urtheilskr. Q

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Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790, S. 241. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/305>, abgerufen am 26.11.2024.