ist gründlich und zugleich zierlich, aber ohne Geist. Man- che Conversation ist nicht ohne Unterhaltung, aber doch ohne Geist; selbst von einem Frauenzimmer sagt man wohl, sie ist hübsch, gesprächig und artig, aber ohne Geist. Was ist das denn, was man hier unter Geist versteht?
Geist in ästhetischer Bedeutung, heißt das bele- bende Princip im Gemüthe. Dasjenige aber wodurch dieses Princip die Seele belebt, der Stoff, den es dazu anwendet, ist das, was die Gemüthskräfte zweckmäßig in Schwung versetzt, d. i. in ein solches Spiel, welches sich von selbst erhält und selbst die Kräfte dazu stärkt.
Nun behaupte ich, dieses Princip sey nichts an- ders, als das Vermögen der Darstellung ästhetischer Jdeen; unter einer ästhetischen Jdee aber verstehe ich diejenige Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgend ein bestimm- ter Gedanke d. i. Begrif adäquat seyn kann, den folg- lich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann. -- Man sieht leicht, daß sie das Gegenstück (Pen- dant) von einer Vernunftidee sey, welche umgekehrt ein Begrif ist, dem keine Anschauung (Vorstellung der Einbildungskraft) adäquat seyn kann.
Die Einbildungskraft (als productives Erkenntnis- vermögen) ist nämlich sehr mächtig in Schaffung gleich- sam einer andern Natur, aus dem Stoffe, den ihr die wirkliche giebt. Wir unterhalten uns mit ihr, wo uns
I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
iſt gruͤndlich und zugleich zierlich, aber ohne Geiſt. Man- che Converſation iſt nicht ohne Unterhaltung, aber doch ohne Geiſt; ſelbſt von einem Frauenzimmer ſagt man wohl, ſie iſt huͤbſch, geſpraͤchig und artig, aber ohne Geiſt. Was iſt das denn, was man hier unter Geiſt verſteht?
Geiſt in aͤſthetiſcher Bedeutung, heißt das bele- bende Princip im Gemuͤthe. Dasjenige aber wodurch dieſes Princip die Seele belebt, der Stoff, den es dazu anwendet, iſt das, was die Gemuͤthskraͤfte zweckmaͤßig in Schwung verſetzt, d. i. in ein ſolches Spiel, welches ſich von ſelbſt erhaͤlt und ſelbſt die Kraͤfte dazu ſtaͤrkt.
Nun behaupte ich, dieſes Princip ſey nichts an- ders, als das Vermoͤgen der Darſtellung aͤſthetiſcher Jdeen; unter einer aͤſthetiſchen Jdee aber verſtehe ich diejenige Vorſtellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgend ein beſtimm- ter Gedanke d. i. Begrif adaͤquat ſeyn kann, den folg- lich keine Sprache voͤllig erreicht und verſtaͤndlich machen kann. — Man ſieht leicht, daß ſie das Gegenſtuͤck (Pen- dant) von einer Vernunftidee ſey, welche umgekehrt ein Begrif iſt, dem keine Anſchauung (Vorſtellung der Einbildungskraft) adaͤquat ſeyn kann.
Die Einbildungskraft (als productives Erkenntnis- vermoͤgen) iſt naͤmlich ſehr maͤchtig in Schaffung gleich- ſam einer andern Natur, aus dem Stoffe, den ihr die wirkliche giebt. Wir unterhalten uns mit ihr, wo uns
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I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
iſt gruͤndlich und zugleich zierlich, aber ohne Geiſt. Man-
che Converſation iſt nicht ohne Unterhaltung, aber doch
ohne Geiſt; ſelbſt von einem Frauenzimmer ſagt man
wohl, ſie iſt huͤbſch, geſpraͤchig und artig, aber ohne
Geiſt. Was iſt das denn, was man hier unter Geiſt
verſteht?
Geiſt in aͤſthetiſcher Bedeutung, heißt das bele-
bende Princip im Gemuͤthe. Dasjenige aber wodurch
dieſes Princip die Seele belebt, der Stoff, den es dazu
anwendet, iſt das, was die Gemuͤthskraͤfte zweckmaͤßig
in Schwung verſetzt, d. i. in ein ſolches Spiel, welches
ſich von ſelbſt erhaͤlt und ſelbſt die Kraͤfte dazu ſtaͤrkt.
Nun behaupte ich, dieſes Princip ſey nichts an-
ders, als das Vermoͤgen der Darſtellung aͤſthetiſcher
Jdeen; unter einer aͤſthetiſchen Jdee aber verſtehe ich
diejenige Vorſtellung der Einbildungskraft, die viel zu
denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgend ein beſtimm-
ter Gedanke d. i. Begrif adaͤquat ſeyn kann, den folg-
lich keine Sprache voͤllig erreicht und verſtaͤndlich machen
kann. — Man ſieht leicht, daß ſie das Gegenſtuͤck (Pen-
dant) von einer Vernunftidee ſey, welche umgekehrt
ein Begrif iſt, dem keine Anſchauung (Vorſtellung
der Einbildungskraft) adaͤquat ſeyn kann.
Die Einbildungskraft (als productives Erkenntnis-
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Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790, S. 190. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/254>, abgerufen am 22.12.2024.
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