Maximen dem Jntellectuellen und den Vernunftideen über die Sinnlichkeit Obermacht zu verschaffen.
Man darf nicht besorgen, daß das Gefühl des Erhabe- nen durch eine dergleichen abgezogene Darstellungsart, die in Ansehung des Sinnlichen gänzlich negativ wird, verlieren werde; denn die Einbildungskraft, ob sie zwar über das Sinnliche hinaus nichts findet, woran sie sich halten kann, fühlt sich doch auch eben durch diese Wegschaffung der Schran- ken derselben unbegrenzt, und jene Absonderung ist also eine Darstellung des Unendlichen, welche zwar eben darum nie- mals anders als blos negative Darstellung seyn kann, die aber doch die Seele erweitert. Vielleicht giebts keine erha- benere Stelle im Gesetzbuche der Juden, als das Gebot: du sollst dir kein Bildnis machen, noch irgend ein Gleichnis, weder dessen was im Himmel, noch auf der Erden, noch unter der Erden ist etc. Dieses Gebot allein kann den En- thusiasm erklären, den das jüdische Volk in seiner gesitteten Epoche für seine Religion fühlete, wenn es sich mit andern Völkern verglich, oder denjenigen Stolz, den der Moham- medanism einflößt. Eben dasselbe gilt auch von der Vor- stellung des moralischen Gesetzes und der Anlage zur Mora- lität in uns. Es ist eine ganz irrige Besorgnis, daß, wenn man sie alles dessen beraubt, was sie den Sinnen empfehlen kann, sie alsdenn keine andere, als kalte leblose Billigung und keine bewegende Kraft oder Rührung bey sich führen würde. Es ist gerade umgekehrt; denn da, wo nun die Sinne nichts mehr vor sich sehen unb die unverkennliche und unauslöschliche Jdee der Sittlichkeit dennoch übrig bleibt, würde es eher nöthig seyn, den Schwung einer unbegrenzten Einbildungskraft zu mäßigen, um ihn nicht bis zum Enthu- siasm steigen zu lassen, als, aus Furcht vor Kraftlosigkeit dieser Jdeen, für sie in Bildern und kindischem Apparat
I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
Maximen dem Jntellectuellen und den Vernunftideen uͤber die Sinnlichkeit Obermacht zu verſchaffen.
Man darf nicht beſorgen, daß das Gefuͤhl des Erhabe- nen durch eine dergleichen abgezogene Darſtellungsart, die in Anſehung des Sinnlichen gaͤnzlich negativ wird, verlieren werde; denn die Einbildungskraft, ob ſie zwar uͤber das Sinnliche hinaus nichts findet, woran ſie ſich halten kann, fuͤhlt ſich doch auch eben durch dieſe Wegſchaffung der Schran- ken derſelben unbegrenzt, und jene Abſonderung iſt alſo eine Darſtellung des Unendlichen, welche zwar eben darum nie- mals anders als blos negative Darſtellung ſeyn kann, die aber doch die Seele erweitert. Vielleicht giebts keine erha- benere Stelle im Geſetzbuche der Juden, als das Gebot: du ſollſt dir kein Bildnis machen, noch irgend ein Gleichnis, weder deſſen was im Himmel, noch auf der Erden, noch unter der Erden iſt etc. Dieſes Gebot allein kann den En- thuſiasm erklaͤren, den das juͤdiſche Volk in ſeiner geſitteten Epoche fuͤr ſeine Religion fuͤhlete, wenn es ſich mit andern Voͤlkern verglich, oder denjenigen Stolz, den der Moham- medanism einfloͤßt. Eben daſſelbe gilt auch von der Vor- ſtellung des moraliſchen Geſetzes und der Anlage zur Mora- litaͤt in uns. Es iſt eine ganz irrige Beſorgnis, daß, wenn man ſie alles deſſen beraubt, was ſie den Sinnen empfehlen kann, ſie alsdenn keine andere, als kalte lebloſe Billigung und keine bewegende Kraft oder Ruͤhrung bey ſich fuͤhren wuͤrde. Es iſt gerade umgekehrt; denn da, wo nun die Sinne nichts mehr vor ſich ſehen unb die unverkennliche und unausloͤſchliche Jdee der Sittlichkeit dennoch uͤbrig bleibt, wuͤrde es eher noͤthig ſeyn, den Schwung einer unbegrenzten Einbildungskraft zu maͤßigen, um ihn nicht bis zum Enthu- ſiasm ſteigen zu laſſen, als, aus Furcht vor Kraftloſigkeit dieſer Jdeen, fuͤr ſie in Bildern und kindiſchem Apparat
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I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
Maximen dem Jntellectuellen und den Vernunftideen uͤber
die Sinnlichkeit Obermacht zu verſchaffen.
Man darf nicht beſorgen, daß das Gefuͤhl des Erhabe-
nen durch eine dergleichen abgezogene Darſtellungsart, die
in Anſehung des Sinnlichen gaͤnzlich negativ wird, verlieren
werde; denn die Einbildungskraft, ob ſie zwar uͤber das
Sinnliche hinaus nichts findet, woran ſie ſich halten kann,
fuͤhlt ſich doch auch eben durch dieſe Wegſchaffung der Schran-
ken derſelben unbegrenzt, und jene Abſonderung iſt alſo eine
Darſtellung des Unendlichen, welche zwar eben darum nie-
mals anders als blos negative Darſtellung ſeyn kann, die
aber doch die Seele erweitert. Vielleicht giebts keine erha-
benere Stelle im Geſetzbuche der Juden, als das Gebot:
du ſollſt dir kein Bildnis machen, noch irgend ein Gleichnis,
weder deſſen was im Himmel, noch auf der Erden, noch
unter der Erden iſt etc. Dieſes Gebot allein kann den En-
thuſiasm erklaͤren, den das juͤdiſche Volk in ſeiner geſitteten
Epoche fuͤr ſeine Religion fuͤhlete, wenn es ſich mit andern
Voͤlkern verglich, oder denjenigen Stolz, den der Moham-
medanism einfloͤßt. Eben daſſelbe gilt auch von der Vor-
ſtellung des moraliſchen Geſetzes und der Anlage zur Mora-
litaͤt in uns. Es iſt eine ganz irrige Beſorgnis, daß, wenn
man ſie alles deſſen beraubt, was ſie den Sinnen empfehlen
kann, ſie alsdenn keine andere, als kalte lebloſe Billigung
und keine bewegende Kraft oder Ruͤhrung bey ſich fuͤhren
wuͤrde. Es iſt gerade umgekehrt; denn da, wo nun die
Sinne nichts mehr vor ſich ſehen unb die unverkennliche und
unausloͤſchliche Jdee der Sittlichkeit dennoch uͤbrig bleibt,
wuͤrde es eher noͤthig ſeyn, den Schwung einer unbegrenzten
Einbildungskraft zu maͤßigen, um ihn nicht bis zum Enthu-
ſiasm ſteigen zu laſſen, als, aus Furcht vor Kraftloſigkeit
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Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790, S. 123. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/187>, abgerufen am 12.12.2024.
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