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Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790.

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I. Th. Critik der ästhetischen Urtheilskraft.

Nun werden geometrisch-regelmäßige Gestalten, eine
Cirkelfigur, ein Quadrat, ein Würfel u. s. w. von Critikern
des Geschmacks gemeiniglich als die einfachsten und unzwei-
felhaftesten Beyspiele der Schönheit angeführt und demnach
werden sie eben darum regelmäßig genannt, weil man sie
nicht anders vorstellen kann als so, daß sie für bloße Dar-
stellungen eines bestimmten Begrifs, der jener Gestalt die
Regel vorschreibt (nach der sie allein möglich ist) angesehen
werden. Eines von beyden muß also irrig seyn, entweder
jenes Urtheil der Critiker gedachten Gestalten Schönheit bey-
zulegen, oder das unsrige, welches Zweckmäßigkeit ohne Be-
grif zur Schönheit nöthig findet.

Niemand wird leichtlich einen Menschen von Geschmack
dazu nöthig finden, um an einer Cirkelgest[a]lt mehr Wohlge-
fallen, als an einem kritzlichen Umrisse, an einem gleichseiti-
gen und gleicheckigten Viereck mehr, als an einem schiefen un-
gleichseitigen, gleichsam verkrüppelten zu finden; denn dazu ge-
hört nur gemeiner Verstand und gar kein Geschmack. Wo eine
Absicht z. B. die Größe eines Platzes zu beurtheilen, oder
das Verhältnis der Theile zu einander und zum Ganzen in
einer Eintheilung, da sind regelmäßige Gestalten, und zwar
die von der einfachsten Art, nöthig und das Wohlgefallen
ruht nicht unmittelbar auf dem Anblicke der Gestalt, sondern
der Brauchbarkeit derselben zu allerley möglicher Absicht. Ein
Zimmer, dessen Wände schiefe Winkel machen, ein Garten-
platz von solcher Art, selbst alle Verletzung der Symmetrie
sowohl in der Gestalt der Thiere, (z. B. einäugigt zu seyn)
oder der Gebäude, oder der Blumenstücke, misfällt, weil
es zweckwidrig ist, nicht allein pra[k]tisch in Ansehung eines
bestimmten Gebrauchs dieser Dinge, sondern auch für die
Beurtheilung in allerley möglicher Absicht, welches der Fall
im Geschmacksurtheile nicht ist, welches, wenn es rein ist,

E 3
I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.

Nun werden geometriſch-regelmaͤßige Geſtalten, eine
Cirkelfigur, ein Quadrat, ein Wuͤrfel u. ſ. w. von Critikern
des Geſchmacks gemeiniglich als die einfachſten und unzwei-
felhafteſten Beyſpiele der Schoͤnheit angefuͤhrt und demnach
werden ſie eben darum regelmaͤßig genannt, weil man ſie
nicht anders vorſtellen kann als ſo, daß ſie fuͤr bloße Dar-
ſtellungen eines beſtimmten Begrifs, der jener Geſtalt die
Regel vorſchreibt (nach der ſie allein moͤglich iſt) angeſehen
werden. Eines von beyden muß alſo irrig ſeyn, entweder
jenes Urtheil der Critiker gedachten Geſtalten Schoͤnheit bey-
zulegen, oder das unſrige, welches Zweckmaͤßigkeit ohne Be-
grif zur Schoͤnheit noͤthig findet.

Niemand wird leichtlich einen Menſchen von Geſchmack
dazu noͤthig finden, um an einer Cirkelgeſt[a]lt mehr Wohlge-
fallen, als an einem kritzlichen Umriſſe, an einem gleichſeiti-
gen und gleicheckigten Viereck mehr, als an einem ſchiefen un-
gleichſeitigen, gleichſam verkruͤppelten zu finden; denn dazu ge-
hoͤrt nur gemeiner Verſtand und gar kein Geſchmack. Wo eine
Abſicht z. B. die Groͤße eines Platzes zu beurtheilen, oder
das Verhaͤltnis der Theile zu einander und zum Ganzen in
einer Eintheilung, da ſind regelmaͤßige Geſtalten, und zwar
die von der einfachſten Art, noͤthig und das Wohlgefallen
ruht nicht unmittelbar auf dem Anblicke der Geſtalt, ſondern
der Brauchbarkeit derſelben zu allerley moͤglicher Abſicht. Ein
Zimmer, deſſen Waͤnde ſchiefe Winkel machen, ein Garten-
platz von ſolcher Art, ſelbſt alle Verletzung der Symmetrie
ſowohl in der Geſtalt der Thiere, (z. B. einaͤugigt zu ſeyn)
oder der Gebaͤude, oder der Blumenſtuͤcke, misfaͤllt, weil
es zweckwidrig iſt, nicht allein pra[k]tiſch in Anſehung eines
beſtimmten Gebrauchs dieſer Dinge, ſondern auch fuͤr die
Beurtheilung in allerley moͤglicher Abſicht, welches der Fall
im Geſchmacksurtheile nicht iſt, welches, wenn es rein iſt,

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[69/0133] I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft. Nun werden geometriſch-regelmaͤßige Geſtalten, eine Cirkelfigur, ein Quadrat, ein Wuͤrfel u. ſ. w. von Critikern des Geſchmacks gemeiniglich als die einfachſten und unzwei- felhafteſten Beyſpiele der Schoͤnheit angefuͤhrt und demnach werden ſie eben darum regelmaͤßig genannt, weil man ſie nicht anders vorſtellen kann als ſo, daß ſie fuͤr bloße Dar- ſtellungen eines beſtimmten Begrifs, der jener Geſtalt die Regel vorſchreibt (nach der ſie allein moͤglich iſt) angeſehen werden. Eines von beyden muß alſo irrig ſeyn, entweder jenes Urtheil der Critiker gedachten Geſtalten Schoͤnheit bey- zulegen, oder das unſrige, welches Zweckmaͤßigkeit ohne Be- grif zur Schoͤnheit noͤthig findet. Niemand wird leichtlich einen Menſchen von Geſchmack dazu noͤthig finden, um an einer Cirkelgeſtalt mehr Wohlge- fallen, als an einem kritzlichen Umriſſe, an einem gleichſeiti- gen und gleicheckigten Viereck mehr, als an einem ſchiefen un- gleichſeitigen, gleichſam verkruͤppelten zu finden; denn dazu ge- hoͤrt nur gemeiner Verſtand und gar kein Geſchmack. Wo eine Abſicht z. B. die Groͤße eines Platzes zu beurtheilen, oder das Verhaͤltnis der Theile zu einander und zum Ganzen in einer Eintheilung, da ſind regelmaͤßige Geſtalten, und zwar die von der einfachſten Art, noͤthig und das Wohlgefallen ruht nicht unmittelbar auf dem Anblicke der Geſtalt, ſondern der Brauchbarkeit derſelben zu allerley moͤglicher Abſicht. Ein Zimmer, deſſen Waͤnde ſchiefe Winkel machen, ein Garten- platz von ſolcher Art, ſelbſt alle Verletzung der Symmetrie ſowohl in der Geſtalt der Thiere, (z. B. einaͤugigt zu ſeyn) oder der Gebaͤude, oder der Blumenſtuͤcke, misfaͤllt, weil es zweckwidrig iſt, nicht allein praktiſch in Anſehung eines beſtimmten Gebrauchs dieſer Dinge, ſondern auch fuͤr die Beurtheilung in allerley moͤglicher Abſicht, welches der Fall im Geſchmacksurtheile nicht iſt, welches, wenn es rein iſt, E 3

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Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790, S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/133>, abgerufen am 09.05.2024.