Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Disciplin der reinen Vernunft im polem. etc.
führe. Allein dies ist nur der zweite Schritt, der noch
lange nicht das Werk vollendet. Der erste Schritt in Sa-
chen der reinen Vernunft, der das Kindesalter derselben
auszeichnet, ist dogmatisch. Der eben genante zweite
Schritt ist sceptisch und zeigt von Vorsichtigkeit, der durch
Erfahrung gewitzigten Urtheilskraft. Nun ist aber noch
ein dritter Schritt nöthig, der nur der gereiften und män-
niglichen Urtheilskraft, welche feste und ihrer Allgemein-
heit nach bewährte Maximen zum Grunde hat, nemlich
nicht die Facta der Vernunft, sondern die Vernunft selbst,
nach ihrem ganzen Vermögen und Tauglichkeit zu reinen
Erkentnissen a priori, der Schätzung zu unterwerfen, wel-
ches nicht die Censur, sondern Critik der Vernunft ist,
wodurch nicht blos Schranken, sondern die bestimte
Gränzen derselben, nicht blos Unwissenheit an einem oder
anderen Theil, sondern in Ansehung aller möglichen Fra-
gen von einer gewissen Art und zwar nicht etwa nur ver-
muthet, sondern aus Principien bewiesen wird. So ist
der Scepticism ein Ruheplatz vor die menschliche Vernunft,
da sie sich über ihre dogmatische Wanderung besinnen und
den Entwurf von der Gegend machen kan, wo sie sich be-
findet, um ihren Weg fernerhin mit mehrerer Sicherheit
wählen zu können, aber nicht ein Wohnplatz zum bestän-
digen Aufenthalte; denn dieser kan nur in einer völligen
Gewißheit angetroffen werden, es sey nun der Erkentniß
der Gegenstände selbst, oder der Gränzen, innerhalb de-

nen
B b b 5

Die Diſciplin der reinen Vernunft im polem. ꝛc.
fuͤhre. Allein dies iſt nur der zweite Schritt, der noch
lange nicht das Werk vollendet. Der erſte Schritt in Sa-
chen der reinen Vernunft, der das Kindesalter derſelben
auszeichnet, iſt dogmatiſch. Der eben genante zweite
Schritt iſt ſceptiſch und zeigt von Vorſichtigkeit, der durch
Erfahrung gewitzigten Urtheilskraft. Nun iſt aber noch
ein dritter Schritt noͤthig, der nur der gereiften und maͤn-
niglichen Urtheilskraft, welche feſte und ihrer Allgemein-
heit nach bewaͤhrte Maximen zum Grunde hat, nemlich
nicht die Facta der Vernunft, ſondern die Vernunft ſelbſt,
nach ihrem ganzen Vermoͤgen und Tauglichkeit zu reinen
Erkentniſſen a priori, der Schaͤtzung zu unterwerfen, wel-
ches nicht die Cenſur, ſondern Critik der Vernunft iſt,
wodurch nicht blos Schranken, ſondern die beſtimte
Graͤnzen derſelben, nicht blos Unwiſſenheit an einem oder
anderen Theil, ſondern in Anſehung aller moͤglichen Fra-
gen von einer gewiſſen Art und zwar nicht etwa nur ver-
muthet, ſondern aus Principien bewieſen wird. So iſt
der Scepticism ein Ruheplatz vor die menſchliche Vernunft,
da ſie ſich uͤber ihre dogmatiſche Wanderung beſinnen und
den Entwurf von der Gegend machen kan, wo ſie ſich be-
findet, um ihren Weg fernerhin mit mehrerer Sicherheit
waͤhlen zu koͤnnen, aber nicht ein Wohnplatz zum beſtaͤn-
digen Aufenthalte; denn dieſer kan nur in einer voͤlligen
Gewißheit angetroffen werden, es ſey nun der Erkentniß
der Gegenſtaͤnde ſelbſt, oder der Graͤnzen, innerhalb de-

nen
B b b 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0791" n="761"/><fw place="top" type="header">Die Di&#x017F;ciplin der reinen Vernunft im polem. &#xA75B;c.</fw><lb/>
fu&#x0364;hre. Allein dies i&#x017F;t nur der zweite Schritt, der noch<lb/>
lange nicht das Werk vollendet. Der er&#x017F;te Schritt in Sa-<lb/>
chen der reinen Vernunft, der das Kindesalter der&#x017F;elben<lb/>
auszeichnet, i&#x017F;t <hi rendition="#fr">dogmati&#x017F;ch</hi>. Der eben genante zweite<lb/>
Schritt i&#x017F;t <hi rendition="#fr">&#x017F;cepti&#x017F;ch</hi> und zeigt von Vor&#x017F;ichtigkeit, der durch<lb/>
Erfahrung gewitzigten Urtheilskraft. Nun i&#x017F;t aber noch<lb/>
ein dritter Schritt no&#x0364;thig, der nur der gereiften und ma&#x0364;n-<lb/>
niglichen Urtheilskraft, welche fe&#x017F;te und ihrer Allgemein-<lb/>
heit nach bewa&#x0364;hrte Maximen zum Grunde hat, nemlich<lb/>
nicht die <hi rendition="#aq">Facta</hi> der Vernunft, &#x017F;ondern die Vernunft &#x017F;elb&#x017F;t,<lb/>
nach ihrem ganzen Vermo&#x0364;gen und Tauglichkeit zu reinen<lb/>
Erkentni&#x017F;&#x017F;en <hi rendition="#aq">a priori,</hi> der Scha&#x0364;tzung zu unterwerfen, wel-<lb/>
ches nicht die Cen&#x017F;ur, &#x017F;ondern <hi rendition="#fr">Critik</hi> der Vernunft i&#x017F;t,<lb/>
wodurch nicht blos <hi rendition="#fr">Schranken,</hi> &#x017F;ondern die be&#x017F;timte<lb/><hi rendition="#fr">Gra&#x0364;nzen</hi> der&#x017F;elben, nicht blos Unwi&#x017F;&#x017F;enheit an einem oder<lb/>
anderen Theil, &#x017F;ondern in An&#x017F;ehung aller mo&#x0364;glichen Fra-<lb/>
gen von einer gewi&#x017F;&#x017F;en Art und zwar nicht etwa nur ver-<lb/>
muthet, &#x017F;ondern aus Principien bewie&#x017F;en wird. So i&#x017F;t<lb/>
der Scepticism ein Ruheplatz vor die men&#x017F;chliche Vernunft,<lb/>
da &#x017F;ie &#x017F;ich u&#x0364;ber ihre dogmati&#x017F;che Wanderung be&#x017F;innen und<lb/>
den Entwurf von der Gegend machen kan, wo &#x017F;ie &#x017F;ich be-<lb/>
findet, um ihren Weg fernerhin mit mehrerer Sicherheit<lb/>
wa&#x0364;hlen zu ko&#x0364;nnen, aber nicht ein Wohnplatz zum be&#x017F;ta&#x0364;n-<lb/>
digen Aufenthalte; denn die&#x017F;er kan nur in einer vo&#x0364;lligen<lb/>
Gewißheit angetroffen werden, es &#x017F;ey nun der Erkentniß<lb/>
der Gegen&#x017F;ta&#x0364;nde &#x017F;elb&#x017F;t, oder der Gra&#x0364;nzen, innerhalb de-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">B b b 5</fw><fw place="bottom" type="catch">nen</fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[761/0791] Die Diſciplin der reinen Vernunft im polem. ꝛc. fuͤhre. Allein dies iſt nur der zweite Schritt, der noch lange nicht das Werk vollendet. Der erſte Schritt in Sa- chen der reinen Vernunft, der das Kindesalter derſelben auszeichnet, iſt dogmatiſch. Der eben genante zweite Schritt iſt ſceptiſch und zeigt von Vorſichtigkeit, der durch Erfahrung gewitzigten Urtheilskraft. Nun iſt aber noch ein dritter Schritt noͤthig, der nur der gereiften und maͤn- niglichen Urtheilskraft, welche feſte und ihrer Allgemein- heit nach bewaͤhrte Maximen zum Grunde hat, nemlich nicht die Facta der Vernunft, ſondern die Vernunft ſelbſt, nach ihrem ganzen Vermoͤgen und Tauglichkeit zu reinen Erkentniſſen a priori, der Schaͤtzung zu unterwerfen, wel- ches nicht die Cenſur, ſondern Critik der Vernunft iſt, wodurch nicht blos Schranken, ſondern die beſtimte Graͤnzen derſelben, nicht blos Unwiſſenheit an einem oder anderen Theil, ſondern in Anſehung aller moͤglichen Fra- gen von einer gewiſſen Art und zwar nicht etwa nur ver- muthet, ſondern aus Principien bewieſen wird. So iſt der Scepticism ein Ruheplatz vor die menſchliche Vernunft, da ſie ſich uͤber ihre dogmatiſche Wanderung beſinnen und den Entwurf von der Gegend machen kan, wo ſie ſich be- findet, um ihren Weg fernerhin mit mehrerer Sicherheit waͤhlen zu koͤnnen, aber nicht ein Wohnplatz zum beſtaͤn- digen Aufenthalte; denn dieſer kan nur in einer voͤlligen Gewißheit angetroffen werden, es ſey nun der Erkentniß der Gegenſtaͤnde ſelbſt, oder der Graͤnzen, innerhalb de- nen B b b 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/791
Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 761. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/791>, abgerufen am 24.11.2024.