führe. Allein dies ist nur der zweite Schritt, der noch lange nicht das Werk vollendet. Der erste Schritt in Sa- chen der reinen Vernunft, der das Kindesalter derselben auszeichnet, ist dogmatisch. Der eben genante zweite Schritt ist sceptisch und zeigt von Vorsichtigkeit, der durch Erfahrung gewitzigten Urtheilskraft. Nun ist aber noch ein dritter Schritt nöthig, der nur der gereiften und män- niglichen Urtheilskraft, welche feste und ihrer Allgemein- heit nach bewährte Maximen zum Grunde hat, nemlich nicht die Facta der Vernunft, sondern die Vernunft selbst, nach ihrem ganzen Vermögen und Tauglichkeit zu reinen Erkentnissen a priori, der Schätzung zu unterwerfen, wel- ches nicht die Censur, sondern Critik der Vernunft ist, wodurch nicht blos Schranken, sondern die bestimte Gränzen derselben, nicht blos Unwissenheit an einem oder anderen Theil, sondern in Ansehung aller möglichen Fra- gen von einer gewissen Art und zwar nicht etwa nur ver- muthet, sondern aus Principien bewiesen wird. So ist der Scepticism ein Ruheplatz vor die menschliche Vernunft, da sie sich über ihre dogmatische Wanderung besinnen und den Entwurf von der Gegend machen kan, wo sie sich be- findet, um ihren Weg fernerhin mit mehrerer Sicherheit wählen zu können, aber nicht ein Wohnplatz zum bestän- digen Aufenthalte; denn dieser kan nur in einer völligen Gewißheit angetroffen werden, es sey nun der Erkentniß der Gegenstände selbst, oder der Gränzen, innerhalb de-
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Die Diſciplin der reinen Vernunft im polem. ꝛc.
fuͤhre. Allein dies iſt nur der zweite Schritt, der noch lange nicht das Werk vollendet. Der erſte Schritt in Sa- chen der reinen Vernunft, der das Kindesalter derſelben auszeichnet, iſt dogmatiſch. Der eben genante zweite Schritt iſt ſceptiſch und zeigt von Vorſichtigkeit, der durch Erfahrung gewitzigten Urtheilskraft. Nun iſt aber noch ein dritter Schritt noͤthig, der nur der gereiften und maͤn- niglichen Urtheilskraft, welche feſte und ihrer Allgemein- heit nach bewaͤhrte Maximen zum Grunde hat, nemlich nicht die Facta der Vernunft, ſondern die Vernunft ſelbſt, nach ihrem ganzen Vermoͤgen und Tauglichkeit zu reinen Erkentniſſen a priori, der Schaͤtzung zu unterwerfen, wel- ches nicht die Cenſur, ſondern Critik der Vernunft iſt, wodurch nicht blos Schranken, ſondern die beſtimte Graͤnzen derſelben, nicht blos Unwiſſenheit an einem oder anderen Theil, ſondern in Anſehung aller moͤglichen Fra- gen von einer gewiſſen Art und zwar nicht etwa nur ver- muthet, ſondern aus Principien bewieſen wird. So iſt der Scepticism ein Ruheplatz vor die menſchliche Vernunft, da ſie ſich uͤber ihre dogmatiſche Wanderung beſinnen und den Entwurf von der Gegend machen kan, wo ſie ſich be- findet, um ihren Weg fernerhin mit mehrerer Sicherheit waͤhlen zu koͤnnen, aber nicht ein Wohnplatz zum beſtaͤn- digen Aufenthalte; denn dieſer kan nur in einer voͤlligen Gewißheit angetroffen werden, es ſey nun der Erkentniß der Gegenſtaͤnde ſelbſt, oder der Graͤnzen, innerhalb de-
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Die Diſciplin der reinen Vernunft im polem. ꝛc.
fuͤhre. Allein dies iſt nur der zweite Schritt, der noch
lange nicht das Werk vollendet. Der erſte Schritt in Sa-
chen der reinen Vernunft, der das Kindesalter derſelben
auszeichnet, iſt dogmatiſch. Der eben genante zweite
Schritt iſt ſceptiſch und zeigt von Vorſichtigkeit, der durch
Erfahrung gewitzigten Urtheilskraft. Nun iſt aber noch
ein dritter Schritt noͤthig, der nur der gereiften und maͤn-
niglichen Urtheilskraft, welche feſte und ihrer Allgemein-
heit nach bewaͤhrte Maximen zum Grunde hat, nemlich
nicht die Facta der Vernunft, ſondern die Vernunft ſelbſt,
nach ihrem ganzen Vermoͤgen und Tauglichkeit zu reinen
Erkentniſſen a priori, der Schaͤtzung zu unterwerfen, wel-
ches nicht die Cenſur, ſondern Critik der Vernunft iſt,
wodurch nicht blos Schranken, ſondern die beſtimte
Graͤnzen derſelben, nicht blos Unwiſſenheit an einem oder
anderen Theil, ſondern in Anſehung aller moͤglichen Fra-
gen von einer gewiſſen Art und zwar nicht etwa nur ver-
muthet, ſondern aus Principien bewieſen wird. So iſt
der Scepticism ein Ruheplatz vor die menſchliche Vernunft,
da ſie ſich uͤber ihre dogmatiſche Wanderung beſinnen und
den Entwurf von der Gegend machen kan, wo ſie ſich be-
findet, um ihren Weg fernerhin mit mehrerer Sicherheit
waͤhlen zu koͤnnen, aber nicht ein Wohnplatz zum beſtaͤn-
digen Aufenthalte; denn dieſer kan nur in einer voͤlligen
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Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 761. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/791>, abgerufen am 24.11.2024.
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