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Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781.

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Die Disciplin der reinen Vernunft im polem. etc.
gar keinen Vortheil haben. Denn was kan den Einsichten
nachtheiliger seyn, als so gar blosse Gedanken verfälscht
einander mitzutheilen, Zweifel, die wir wider unsere ei-
gene Behauptungen fühlen, zu verheelen, oder Beweis-
gründen, die uns selbst nicht gnug thun, einen Anstrich
von Evidenz zu geben. So lange indessen blos die Pri-
vateitelkeit diese geheime Ränke anstiftet (welches in specu-
lativen Urtheilen, die kein besonderes Interesse haben und
nicht leicht einer apodictischen Gewißheit fähig sind, ge-
meiniglich der Fall ist), so widersteht denn doch die Eitelkeit
anderer mit öffentlicher Genehmigung und die Sachen
kommen zulezt dahin, wo die lauterste Gesinnung und
Aufrichtigkeit, obgleich weit früher, sie gebracht haben
würde. Wo aber das gemeine Wesen davor hält: daß
spitzfindige Vernünftler mit nichts minderem umgehen, als
die Grundveste der öffentlichen Wolfahrt wankend zu ma-
chen, da scheint es nicht allein der Klugheit gemäß, son-
dern auch erlaubt und wol gar rühmlich, der guten Sache
eher durch Scheingründe zu Hülfe zu kommen, als den
vermeintlichen Gegnern derselben auch nur den Vortheil zu
lassen, unseren Ton zur Mässigung einer blos practischen
Ueberzeugung herabzustimmen, und uns zu nöthigen, den
Mangel der speculativen und apodictischen Gewißheit zu
gestehen. Indessen solte ich denken: daß sich mit der Ab-
sicht, eine gute Sache zu behaupten, in der Welt wol
nichts übler, als Hinterlist, Verstellung und Betrug ver-
einigen lasse. Daß es in der Abwiegung der Vernunft-

grün-

Die Diſciplin der reinen Vernunft im polem. ꝛc.
gar keinen Vortheil haben. Denn was kan den Einſichten
nachtheiliger ſeyn, als ſo gar bloſſe Gedanken verfaͤlſcht
einander mitzutheilen, Zweifel, die wir wider unſere ei-
gene Behauptungen fuͤhlen, zu verheelen, oder Beweis-
gruͤnden, die uns ſelbſt nicht gnug thun, einen Anſtrich
von Evidenz zu geben. So lange indeſſen blos die Pri-
vateitelkeit dieſe geheime Raͤnke anſtiftet (welches in ſpecu-
lativen Urtheilen, die kein beſonderes Intereſſe haben und
nicht leicht einer apodictiſchen Gewißheit faͤhig ſind, ge-
meiniglich der Fall iſt), ſo widerſteht denn doch die Eitelkeit
anderer mit oͤffentlicher Genehmigung und die Sachen
kommen zulezt dahin, wo die lauterſte Geſinnung und
Aufrichtigkeit, obgleich weit fruͤher, ſie gebracht haben
wuͤrde. Wo aber das gemeine Weſen davor haͤlt: daß
ſpitzfindige Vernuͤnftler mit nichts minderem umgehen, als
die Grundveſte der oͤffentlichen Wolfahrt wankend zu ma-
chen, da ſcheint es nicht allein der Klugheit gemaͤß, ſon-
dern auch erlaubt und wol gar ruͤhmlich, der guten Sache
eher durch Scheingruͤnde zu Huͤlfe zu kommen, als den
vermeintlichen Gegnern derſelben auch nur den Vortheil zu
laſſen, unſeren Ton zur Maͤſſigung einer blos practiſchen
Ueberzeugung herabzuſtimmen, und uns zu noͤthigen, den
Mangel der ſpeculativen und apodictiſchen Gewißheit zu
geſtehen. Indeſſen ſolte ich denken: daß ſich mit der Ab-
ſicht, eine gute Sache zu behaupten, in der Welt wol
nichts uͤbler, als Hinterliſt, Verſtellung und Betrug ver-
einigen laſſe. Daß es in der Abwiegung der Vernunft-

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[749/0779] Die Diſciplin der reinen Vernunft im polem. ꝛc. gar keinen Vortheil haben. Denn was kan den Einſichten nachtheiliger ſeyn, als ſo gar bloſſe Gedanken verfaͤlſcht einander mitzutheilen, Zweifel, die wir wider unſere ei- gene Behauptungen fuͤhlen, zu verheelen, oder Beweis- gruͤnden, die uns ſelbſt nicht gnug thun, einen Anſtrich von Evidenz zu geben. So lange indeſſen blos die Pri- vateitelkeit dieſe geheime Raͤnke anſtiftet (welches in ſpecu- lativen Urtheilen, die kein beſonderes Intereſſe haben und nicht leicht einer apodictiſchen Gewißheit faͤhig ſind, ge- meiniglich der Fall iſt), ſo widerſteht denn doch die Eitelkeit anderer mit oͤffentlicher Genehmigung und die Sachen kommen zulezt dahin, wo die lauterſte Geſinnung und Aufrichtigkeit, obgleich weit fruͤher, ſie gebracht haben wuͤrde. Wo aber das gemeine Weſen davor haͤlt: daß ſpitzfindige Vernuͤnftler mit nichts minderem umgehen, als die Grundveſte der oͤffentlichen Wolfahrt wankend zu ma- chen, da ſcheint es nicht allein der Klugheit gemaͤß, ſon- dern auch erlaubt und wol gar ruͤhmlich, der guten Sache eher durch Scheingruͤnde zu Huͤlfe zu kommen, als den vermeintlichen Gegnern derſelben auch nur den Vortheil zu laſſen, unſeren Ton zur Maͤſſigung einer blos practiſchen Ueberzeugung herabzuſtimmen, und uns zu noͤthigen, den Mangel der ſpeculativen und apodictiſchen Gewißheit zu geſtehen. Indeſſen ſolte ich denken: daß ſich mit der Ab- ſicht, eine gute Sache zu behaupten, in der Welt wol nichts uͤbler, als Hinterliſt, Verſtellung und Betrug ver- einigen laſſe. Daß es in der Abwiegung der Vernunft- gruͤn-

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Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 749. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/779>, abgerufen am 23.11.2024.