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Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781.

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Methodenlehre I. Hauptst. I. Absch.
einigen (dem Mittelpuncte) gleich weit abstehen, den Feh-
ler, daß die Bestimmung krumm unnöthiger Weise einge-
flossen ist. Denn es muß einen besonderen Lehrsatz ge-
ben, der aus der Definition gefolgert wird und leicht be-
wiesen werden kan: daß eine iede Linie, deren alle Puncte
von einem einigen gleich weit abstehen, krumm, (kein Theil
von ihr gerade) sey. Analytische Definitionen können
dagegen auf vielfältige Art irren, entweder, indem sie
Merkmale hineinbringen, die wirklich nicht im Begriffe
lagen, oder an der Ausführlichkeit ermangeln, die das
wesentliche einer Definition ausmacht, weil man der Voll-
ständigkeit seiner Zergliederung nicht so völlig gewiß seyn
kan. Um deswillen läßt sich die Methode der Mathematik
im Definiren in der Philosophie nicht nachahmen.

2. Von den Axiomen. Diese sind synthetische
Grundsätze a priori, so fern sie unmittelbar gewiß seyn.
Nun läßt sich nicht ein Begriff mit dem anderen synthe-
tisch und doch unmittelbar verbinden, weil, damit wir
über einen Begriff hinausgehen können, ein drittes ver-
mittelnde Erkentniß nöthig ist. Da nun Philosophie,
blos die Vernunfterkentniß nach Begriffen ist, so wird in
ihr kein Grundsatz anzutreffen seyn, der den Nahmen eines
Axioms verdiene. Die Mathematik dagegen ist der Axio-
men fähig, weil sie vermittelst der Construction der Be-
griffe in der Anschauung des Gegenstandes die Prädicate
desselben a priori und unmittelbar verknüpfen kan, Z. B.
daß drey Puncte iederzeit in einer Ebene liegen. Dage-

gen

Methodenlehre I. Hauptſt. I. Abſch.
einigen (dem Mittelpuncte) gleich weit abſtehen, den Feh-
ler, daß die Beſtimmung krumm unnoͤthiger Weiſe einge-
floſſen iſt. Denn es muß einen beſonderen Lehrſatz ge-
ben, der aus der Definition gefolgert wird und leicht be-
wieſen werden kan: daß eine iede Linie, deren alle Puncte
von einem einigen gleich weit abſtehen, krumm, (kein Theil
von ihr gerade) ſey. Analytiſche Definitionen koͤnnen
dagegen auf vielfaͤltige Art irren, entweder, indem ſie
Merkmale hineinbringen, die wirklich nicht im Begriffe
lagen, oder an der Ausfuͤhrlichkeit ermangeln, die das
weſentliche einer Definition ausmacht, weil man der Voll-
ſtaͤndigkeit ſeiner Zergliederung nicht ſo voͤllig gewiß ſeyn
kan. Um deswillen laͤßt ſich die Methode der Mathematik
im Definiren in der Philoſophie nicht nachahmen.

2. Von den Axiomen. Dieſe ſind ſynthetiſche
Grundſaͤtze a priori, ſo fern ſie unmittelbar gewiß ſeyn.
Nun laͤßt ſich nicht ein Begriff mit dem anderen ſynthe-
tiſch und doch unmittelbar verbinden, weil, damit wir
uͤber einen Begriff hinausgehen koͤnnen, ein drittes ver-
mittelnde Erkentniß noͤthig iſt. Da nun Philoſophie,
blos die Vernunfterkentniß nach Begriffen iſt, ſo wird in
ihr kein Grundſatz anzutreffen ſeyn, der den Nahmen eines
Axioms verdiene. Die Mathematik dagegen iſt der Axio-
men faͤhig, weil ſie vermittelſt der Conſtruction der Be-
griffe in der Anſchauung des Gegenſtandes die Praͤdicate
deſſelben a priori und unmittelbar verknuͤpfen kan, Z. B.
daß drey Puncte iederzeit in einer Ebene liegen. Dage-

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[732/0762] Methodenlehre I. Hauptſt. I. Abſch. einigen (dem Mittelpuncte) gleich weit abſtehen, den Feh- ler, daß die Beſtimmung krumm unnoͤthiger Weiſe einge- floſſen iſt. Denn es muß einen beſonderen Lehrſatz ge- ben, der aus der Definition gefolgert wird und leicht be- wieſen werden kan: daß eine iede Linie, deren alle Puncte von einem einigen gleich weit abſtehen, krumm, (kein Theil von ihr gerade) ſey. Analytiſche Definitionen koͤnnen dagegen auf vielfaͤltige Art irren, entweder, indem ſie Merkmale hineinbringen, die wirklich nicht im Begriffe lagen, oder an der Ausfuͤhrlichkeit ermangeln, die das weſentliche einer Definition ausmacht, weil man der Voll- ſtaͤndigkeit ſeiner Zergliederung nicht ſo voͤllig gewiß ſeyn kan. Um deswillen laͤßt ſich die Methode der Mathematik im Definiren in der Philoſophie nicht nachahmen. 2. Von den Axiomen. Dieſe ſind ſynthetiſche Grundſaͤtze a priori, ſo fern ſie unmittelbar gewiß ſeyn. Nun laͤßt ſich nicht ein Begriff mit dem anderen ſynthe- tiſch und doch unmittelbar verbinden, weil, damit wir uͤber einen Begriff hinausgehen koͤnnen, ein drittes ver- mittelnde Erkentniß noͤthig iſt. Da nun Philoſophie, blos die Vernunfterkentniß nach Begriffen iſt, ſo wird in ihr kein Grundſatz anzutreffen ſeyn, der den Nahmen eines Axioms verdiene. Die Mathematik dagegen iſt der Axio- men faͤhig, weil ſie vermittelſt der Conſtruction der Be- griffe in der Anſchauung des Gegenſtandes die Praͤdicate deſſelben a priori und unmittelbar verknuͤpfen kan, Z. B. daß drey Puncte iederzeit in einer Ebene liegen. Dage- gen

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Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 732. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/762>, abgerufen am 23.11.2024.