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Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781.

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II. Abschnitt. Von der Zeit.
unserer eigenen Vorstellungen, wenn man gleich alle äus-
sere Erscheinungen, samt deren Veränderungen leugnen
wollte). Nun sind Veränderungen nur in der Zeit mög-
lich, folglich ist die Zeit etwas wirkliches. Die Beant-
wortung hat keine Schwierigkeit. Ich gebe das ganze
Argument zu. Die Zeit ist allerdings etwas Wirkliches,
nemlich die wirkliche Form der innern Anschauung. Sie
hat also subiective Realität in Ansehung der innern Er-
fahrung, d. i. ich habe wirklich die Vorstellung von der Zeit
und meiner Bestimmungen in ihr. Sie ist also wirklich nicht
als Obiect, sondern als die Vorstellungsart meiner Selbst
als Obiets anzusehen. Wenn aber ich selbst, oder ein an-
der Wesen mich, ohne diese Bedingung der Sinnlichkeit, an-
schauen könte, so würden eben dieselben Bestimmungen,
die wir uns iezt als Veränderungen vorstellen, eine Erkentniß
geben, in welcher die Vorstellung der Zeit, mithin auch der
Veränderung gar nicht vorkäme. Es bleibt also ihre empirische
Realität als Bedingung aller unsrer Erfahrungen. Nur die
absolute Realität kan ihr nach dem oben angeführten nicht
zugestanden werden. Sie ist nichts, als die Form unsrer
inneren Anschauung.*) Wenn man von ihr die besondere
Bedingung unserer Sinnlichkeit wegnimmt, so verschwin-
det auch der Begriff der Zeit, und sie hängt nicht an den

Gegen-
*) Ich kan zwar sagen: meine Vorstellungen folgen einander;
aber das heißt nur, wir sind uns ihrer, als in einer
Zeitfolge, d. i. nach der Form des innern Sinnes be-
wußt. Die Zeit ist darum nicht etwas an sich selbst, auch
keine den Dingen obiectiv anhängende Bestimmung.
C 3

II. Abſchnitt. Von der Zeit.
unſerer eigenen Vorſtellungen, wenn man gleich alle aͤuſ-
ſere Erſcheinungen, ſamt deren Veraͤnderungen leugnen
wollte). Nun ſind Veraͤnderungen nur in der Zeit moͤg-
lich, folglich iſt die Zeit etwas wirkliches. Die Beant-
wortung hat keine Schwierigkeit. Ich gebe das ganze
Argument zu. Die Zeit iſt allerdings etwas Wirkliches,
nemlich die wirkliche Form der innern Anſchauung. Sie
hat alſo ſubiective Realitaͤt in Anſehung der innern Er-
fahrung, d. i. ich habe wirklich die Vorſtellung von der Zeit
und meiner Beſtimmungen in ihr. Sie iſt alſo wirklich nicht
als Obiect, ſondern als die Vorſtellungsart meiner Selbſt
als Obiets anzuſehen. Wenn aber ich ſelbſt, oder ein an-
der Weſen mich, ohne dieſe Bedingung der Sinnlichkeit, an-
ſchauen koͤnte, ſo wuͤrden eben dieſelben Beſtimmungen,
die wir uns iezt als Veraͤnderungen vorſtellen, eine Erkentniß
geben, in welcher die Vorſtellung der Zeit, mithin auch der
Veraͤnderung gar nicht vorkaͤme. Es bleibt alſo ihre empiriſche
Realitaͤt als Bedingung aller unſrer Erfahrungen. Nur die
abſolute Realitaͤt kan ihr nach dem oben angefuͤhrten nicht
zugeſtanden werden. Sie iſt nichts, als die Form unſrer
inneren Anſchauung.*) Wenn man von ihr die beſondere
Bedingung unſerer Sinnlichkeit wegnimmt, ſo verſchwin-
det auch der Begriff der Zeit, und ſie haͤngt nicht an den

Gegen-
*) Ich kan zwar ſagen: meine Vorſtellungen folgen einander;
aber das heißt nur, wir ſind uns ihrer, als in einer
Zeitfolge, d. i. nach der Form des innern Sinnes be-
wußt. Die Zeit iſt darum nicht etwas an ſich ſelbſt, auch
keine den Dingen obiectiv anhaͤngende Beſtimmung.
C 3
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[37/0067] II. Abſchnitt. Von der Zeit. unſerer eigenen Vorſtellungen, wenn man gleich alle aͤuſ- ſere Erſcheinungen, ſamt deren Veraͤnderungen leugnen wollte). Nun ſind Veraͤnderungen nur in der Zeit moͤg- lich, folglich iſt die Zeit etwas wirkliches. Die Beant- wortung hat keine Schwierigkeit. Ich gebe das ganze Argument zu. Die Zeit iſt allerdings etwas Wirkliches, nemlich die wirkliche Form der innern Anſchauung. Sie hat alſo ſubiective Realitaͤt in Anſehung der innern Er- fahrung, d. i. ich habe wirklich die Vorſtellung von der Zeit und meiner Beſtimmungen in ihr. Sie iſt alſo wirklich nicht als Obiect, ſondern als die Vorſtellungsart meiner Selbſt als Obiets anzuſehen. Wenn aber ich ſelbſt, oder ein an- der Weſen mich, ohne dieſe Bedingung der Sinnlichkeit, an- ſchauen koͤnte, ſo wuͤrden eben dieſelben Beſtimmungen, die wir uns iezt als Veraͤnderungen vorſtellen, eine Erkentniß geben, in welcher die Vorſtellung der Zeit, mithin auch der Veraͤnderung gar nicht vorkaͤme. Es bleibt alſo ihre empiriſche Realitaͤt als Bedingung aller unſrer Erfahrungen. Nur die abſolute Realitaͤt kan ihr nach dem oben angefuͤhrten nicht zugeſtanden werden. Sie iſt nichts, als die Form unſrer inneren Anſchauung. *) Wenn man von ihr die beſondere Bedingung unſerer Sinnlichkeit wegnimmt, ſo verſchwin- det auch der Begriff der Zeit, und ſie haͤngt nicht an den Gegen- *) Ich kan zwar ſagen: meine Vorſtellungen folgen einander; aber das heißt nur, wir ſind uns ihrer, als in einer Zeitfolge, d. i. nach der Form des innern Sinnes be- wußt. Die Zeit iſt darum nicht etwas an ſich ſelbſt, auch keine den Dingen obiectiv anhaͤngende Beſtimmung. C 3

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Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 37. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/67>, abgerufen am 27.04.2024.