Erscheinungen der Natur muß uns indessen vieles unge- wiß und manche Frage unauflöslich bleiben, weil das, was wir von der Natur wissen, zu dem, was wir erklären sollen, bey weitem nicht in allen Fällen zureichend ist. Es frägt sich nun: ob in der Transscendentalphilosophie irgend eine Frage, die ein der Vernunft vorgelegtes Ob- iect betrift, durch eben diese reine Vernunft unbeantwort- lich sey und ob man sich ihrer entscheidenden Beantwortung dadurch mit Recht entziehen könne, daß man'es, als schlecht- hin ungewiß (aus allen dem, was wir erkennen können) demienigen beyzählt, wovon wir zwar so viel Begriff haben, um eine Frage aufzuwerfen, es uns aber gänzlich an Mitteln oder am Vermögen fehlt, sie iemals zu beant- worten.
Ich behaupte nun, daß die Transscendentalphiloso- phie unter allem speculativen Erkentniß dieses Eigenthüm- liche habe: daß gar keine Frage, welche einen der reinen Vernunft gegebenen Gegenstand betrift, vor eben dieselbe menschliche Vernunft unauflöslich sey und daß kein Vor- schützen einer unvermeidlichen Unwissenheit und unergründ- licher Tiefe der Aufgabe von der Verbindlichkeit frey spre- chen könne, sie gründlich und vollständig zu beantworten; weil eben derselbe Begriff, der uns in den Stand sezt zu fragen, durchaus uns auch tüchtig machen muß, auf diese Frage zu antworten, indem der Gegenstand ausser dem Begriffe gar nicht angetroffen wird (wie bey Recht und Unrecht).
Es
IV. Abſch. Von der Aufloͤſung aller Aufgaben ꝛc.
Erſcheinungen der Natur muß uns indeſſen vieles unge- wiß und manche Frage unaufloͤslich bleiben, weil das, was wir von der Natur wiſſen, zu dem, was wir erklaͤren ſollen, bey weitem nicht in allen Faͤllen zureichend iſt. Es fraͤgt ſich nun: ob in der Transſcendentalphiloſophie irgend eine Frage, die ein der Vernunft vorgelegtes Ob- iect betrift, durch eben dieſe reine Vernunft unbeantwort- lich ſey und ob man ſich ihrer entſcheidenden Beantwortung dadurch mit Recht entziehen koͤnne, daß man’es, als ſchlecht- hin ungewiß (aus allen dem, was wir erkennen koͤnnen) demienigen beyzaͤhlt, wovon wir zwar ſo viel Begriff haben, um eine Frage aufzuwerfen, es uns aber gaͤnzlich an Mitteln oder am Vermoͤgen fehlt, ſie iemals zu beant- worten.
Ich behaupte nun, daß die Transſcendentalphiloſo- phie unter allem ſpeculativen Erkentniß dieſes Eigenthuͤm- liche habe: daß gar keine Frage, welche einen der reinen Vernunft gegebenen Gegenſtand betrift, vor eben dieſelbe menſchliche Vernunft unaufloͤslich ſey und daß kein Vor- ſchuͤtzen einer unvermeidlichen Unwiſſenheit und unergruͤnd- licher Tiefe der Aufgabe von der Verbindlichkeit frey ſpre- chen koͤnne, ſie gruͤndlich und vollſtaͤndig zu beantworten; weil eben derſelbe Begriff, der uns in den Stand ſezt zu fragen, durchaus uns auch tuͤchtig machen muß, auf dieſe Frage zu antworten, indem der Gegenſtand auſſer dem Begriffe gar nicht angetroffen wird (wie bey Recht und Unrecht).
Es
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IV. Abſch. Von der Aufloͤſung aller Aufgaben ꝛc.
Erſcheinungen der Natur muß uns indeſſen vieles unge-
wiß und manche Frage unaufloͤslich bleiben, weil das,
was wir von der Natur wiſſen, zu dem, was wir erklaͤren
ſollen, bey weitem nicht in allen Faͤllen zureichend iſt.
Es fraͤgt ſich nun: ob in der Transſcendentalphiloſophie
irgend eine Frage, die ein der Vernunft vorgelegtes Ob-
iect betrift, durch eben dieſe reine Vernunft unbeantwort-
lich ſey und ob man ſich ihrer entſcheidenden Beantwortung
dadurch mit Recht entziehen koͤnne, daß man’es, als ſchlecht-
hin ungewiß (aus allen dem, was wir erkennen koͤnnen)
demienigen beyzaͤhlt, wovon wir zwar ſo viel Begriff haben,
um eine Frage aufzuwerfen, es uns aber gaͤnzlich an
Mitteln oder am Vermoͤgen fehlt, ſie iemals zu beant-
worten.
Ich behaupte nun, daß die Transſcendentalphiloſo-
phie unter allem ſpeculativen Erkentniß dieſes Eigenthuͤm-
liche habe: daß gar keine Frage, welche einen der reinen
Vernunft gegebenen Gegenſtand betrift, vor eben dieſelbe
menſchliche Vernunft unaufloͤslich ſey und daß kein Vor-
ſchuͤtzen einer unvermeidlichen Unwiſſenheit und unergruͤnd-
licher Tiefe der Aufgabe von der Verbindlichkeit frey ſpre-
chen koͤnne, ſie gruͤndlich und vollſtaͤndig zu beantworten;
weil eben derſelbe Begriff, der uns in den Stand ſezt zu
fragen, durchaus uns auch tuͤchtig machen muß, auf dieſe
Frage zu antworten, indem der Gegenſtand auſſer dem
Begriffe gar nicht angetroffen wird (wie bey Recht und
Unrecht).
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Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 477. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/507>, abgerufen am 22.11.2024.
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