Daher führt das architectonische Interesse der Vernunft (welches nicht empirische, sondern reine Vernunfteinheit a priori fodert) eine natürliche Empfehlung vor die Be- hauptungen der Thesis bey sich.
Könte sich aber ein Mensch von allem Interesse los- sagen, und die Behauptungen der Vernunft, gleichgültig gegen alle Folgen, blos nach dem Gehalte ihrer Gründe in Betrachtung ziehen: so würde ein solcher, gesezt daß er keinen Ausweg wüßte, anders aus dem Gedränge zu kommen, als daß er sich zu einer, oder andern der stritti- gen Lehren bekennete, in einem unaufhörlich schwankenden Zustande seyn. Heute würde es ihm überzeugend vorkom- men: der menschliche Wille sey frey; Morgen, wenn er die unauflösliche Naturkette in Betrachtung zöge, wür- de er davor halten: die Freiheit sey nichts als Selbsttäu- schung und alles sey blos Natur. Wenn es nun aber zum Thun und Handeln käme, so würde dieses Spiel der blos speculativen Vernunft, wie Schattenbilder eines Traums, verschwinden und er würde seine Principien blos nach dem practischen Interesse wählen. Weil es aber doch einem nachdenkenden und forschenden Wesen anständig ist, gewisse Zeiten lediglich der Prüfung seiner eigenen Ver- nunft zu widmen, hiebey aber alle Partheylichkeit gänzlich auszuziehen, und so seine Bemerkungen anderen zur Be- urtheilung öffentlich mitzutheilen: so kan es niemanden verargt, noch weniger verwehrt werden, die Sätze und
Gegen-
III. Abſch. Von dem Intereſſe der Vernunft ꝛc.
Daher fuͤhrt das architectoniſche Intereſſe der Vernunft (welches nicht empiriſche, ſondern reine Vernunfteinheit a priori fodert) eine natuͤrliche Empfehlung vor die Be- hauptungen der Theſis bey ſich.
Koͤnte ſich aber ein Menſch von allem Intereſſe los- ſagen, und die Behauptungen der Vernunft, gleichguͤltig gegen alle Folgen, blos nach dem Gehalte ihrer Gruͤnde in Betrachtung ziehen: ſo wuͤrde ein ſolcher, geſezt daß er keinen Ausweg wuͤßte, anders aus dem Gedraͤnge zu kommen, als daß er ſich zu einer, oder andern der ſtritti- gen Lehren bekennete, in einem unaufhoͤrlich ſchwankenden Zuſtande ſeyn. Heute wuͤrde es ihm uͤberzeugend vorkom- men: der menſchliche Wille ſey frey; Morgen, wenn er die unaufloͤsliche Naturkette in Betrachtung zoͤge, wuͤr- de er davor halten: die Freiheit ſey nichts als Selbſttaͤu- ſchung und alles ſey blos Natur. Wenn es nun aber zum Thun und Handeln kaͤme, ſo wuͤrde dieſes Spiel der blos ſpeculativen Vernunft, wie Schattenbilder eines Traums, verſchwinden und er wuͤrde ſeine Principien blos nach dem practiſchen Intereſſe waͤhlen. Weil es aber doch einem nachdenkenden und forſchenden Weſen anſtaͤndig iſt, gewiſſe Zeiten lediglich der Pruͤfung ſeiner eigenen Ver- nunft zu widmen, hiebey aber alle Partheylichkeit gaͤnzlich auszuziehen, und ſo ſeine Bemerkungen anderen zur Be- urtheilung oͤffentlich mitzutheilen: ſo kan es niemanden verargt, noch weniger verwehrt werden, die Saͤtze und
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III. Abſch. Von dem Intereſſe der Vernunft ꝛc.
Daher fuͤhrt das architectoniſche Intereſſe der Vernunft
(welches nicht empiriſche, ſondern reine Vernunfteinheit
a priori fodert) eine natuͤrliche Empfehlung vor die Be-
hauptungen der Theſis bey ſich.
Koͤnte ſich aber ein Menſch von allem Intereſſe los-
ſagen, und die Behauptungen der Vernunft, gleichguͤltig
gegen alle Folgen, blos nach dem Gehalte ihrer Gruͤnde
in Betrachtung ziehen: ſo wuͤrde ein ſolcher, geſezt daß
er keinen Ausweg wuͤßte, anders aus dem Gedraͤnge zu
kommen, als daß er ſich zu einer, oder andern der ſtritti-
gen Lehren bekennete, in einem unaufhoͤrlich ſchwankenden
Zuſtande ſeyn. Heute wuͤrde es ihm uͤberzeugend vorkom-
men: der menſchliche Wille ſey frey; Morgen, wenn
er die unaufloͤsliche Naturkette in Betrachtung zoͤge, wuͤr-
de er davor halten: die Freiheit ſey nichts als Selbſttaͤu-
ſchung und alles ſey blos Natur. Wenn es nun aber zum
Thun und Handeln kaͤme, ſo wuͤrde dieſes Spiel der blos
ſpeculativen Vernunft, wie Schattenbilder eines Traums,
verſchwinden und er wuͤrde ſeine Principien blos nach dem
practiſchen Intereſſe waͤhlen. Weil es aber doch einem
nachdenkenden und forſchenden Weſen anſtaͤndig iſt,
gewiſſe Zeiten lediglich der Pruͤfung ſeiner eigenen Ver-
nunft zu widmen, hiebey aber alle Partheylichkeit gaͤnzlich
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Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 475. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/505>, abgerufen am 22.11.2024.
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