Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781.

Bild:
<< vorherige Seite

Elementarl. II. Th. II. Abth. II. Buch. II. Hauptst.
scheidendes an sich haben, daß er nicht eine willkührliche
Frage betrift, die man nur in gewisser beliebiger Absicht
aufwirft, sondern eine solche, auf die iede menschliche
Vernunft in ihrem Fortgange nothwendig stossen muß,
und zweitens: daß er, mit seinem Gegensatze, nicht blos
einen gekünstelten Schein, der, wenn man ihn einsieht,
sogleich verschwindet, sondern einen natürlichen und unver-
meidlichen Schein bey sich führe, der selbst, wenn man
nicht mehr durch ihn hintergangen wird, noch immer täuscht,
obschon nicht betrügt, und also zwar unschädlich gemacht,
aber niemals vertilgt werden kann.

Eine solche dialectische Lehre wird sich nicht auf die
Verstandeseinheit in Erfahrungsbegriffen, sondern auf die
Vernunfteinheit in blossen Ideen beziehen, deren Bedin-
gungen, da sie erstlich, als Synthesis nach Regeln, dem
Verstande und doch zugleich, als absolute Einheit dersel-
ben, der Vernunft congruiren soll, wenn sie der Vernunft-
einheit adäquat ist, vor den Verstand zu groß, und, wenn
sie dem Verstande angemessen, vor die Vernunft zu klein
seyn wird; woraus denn ein Widerstreit entspringen muß,
der nicht vermieden werden kan, man mag es anfangen,
wie man will.

Diese vernünftelnde Behauptungen eröfnen also einen
dialectischen Kampfplatz, wo ieder Theil die Oberhand be-
hält, der die Erlaubniß hat, den Angriff zu thun, und der-

ieni-

Elementarl. II. Th. II. Abth. II. Buch. II. Hauptſt.
ſcheidendes an ſich haben, daß er nicht eine willkuͤhrliche
Frage betrift, die man nur in gewiſſer beliebiger Abſicht
aufwirft, ſondern eine ſolche, auf die iede menſchliche
Vernunft in ihrem Fortgange nothwendig ſtoſſen muß,
und zweitens: daß er, mit ſeinem Gegenſatze, nicht blos
einen gekuͤnſtelten Schein, der, wenn man ihn einſieht,
ſogleich verſchwindet, ſondern einen natuͤrlichen und unver-
meidlichen Schein bey ſich fuͤhre, der ſelbſt, wenn man
nicht mehr durch ihn hintergangen wird, noch immer taͤuſcht,
obſchon nicht betruͤgt, und alſo zwar unſchaͤdlich gemacht,
aber niemals vertilgt werden kann.

Eine ſolche dialectiſche Lehre wird ſich nicht auf die
Verſtandeseinheit in Erfahrungsbegriffen, ſondern auf die
Vernunfteinheit in bloſſen Ideen beziehen, deren Bedin-
gungen, da ſie erſtlich, als Syntheſis nach Regeln, dem
Verſtande und doch zugleich, als abſolute Einheit derſel-
ben, der Vernunft congruiren ſoll, wenn ſie der Vernunft-
einheit adaͤquat iſt, vor den Verſtand zu groß, und, wenn
ſie dem Verſtande angemeſſen, vor die Vernunft zu klein
ſeyn wird; woraus denn ein Widerſtreit entſpringen muß,
der nicht vermieden werden kan, man mag es anfangen,
wie man will.

Dieſe vernuͤnftelnde Behauptungen eroͤfnen alſo einen
dialectiſchen Kampfplatz, wo ieder Theil die Oberhand be-
haͤlt, der die Erlaubniß hat, den Angriff zu thun, und der-

ieni-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <div n="7">
                    <div n="8">
                      <p><pb facs="#f0452" n="422"/><fw place="top" type="header">Elementarl. <hi rendition="#aq">II.</hi> Th. <hi rendition="#aq">II.</hi> Abth. <hi rendition="#aq">II.</hi> Buch. <hi rendition="#aq">II.</hi> Haupt&#x017F;t.</fw><lb/>
&#x017F;cheidendes an &#x017F;ich haben, daß er nicht eine willku&#x0364;hrliche<lb/>
Frage betrift, die man nur in gewi&#x017F;&#x017F;er beliebiger Ab&#x017F;icht<lb/>
aufwirft, &#x017F;ondern eine &#x017F;olche, auf die iede men&#x017F;chliche<lb/>
Vernunft in ihrem Fortgange nothwendig &#x017F;to&#x017F;&#x017F;en muß,<lb/>
und zweitens: daß er, mit &#x017F;einem Gegen&#x017F;atze, nicht blos<lb/>
einen geku&#x0364;n&#x017F;telten Schein, der, wenn man ihn ein&#x017F;ieht,<lb/>
&#x017F;ogleich ver&#x017F;chwindet, &#x017F;ondern einen natu&#x0364;rlichen und unver-<lb/>
meidlichen Schein bey &#x017F;ich fu&#x0364;hre, der &#x017F;elb&#x017F;t, wenn man<lb/>
nicht mehr durch ihn hintergangen wird, noch immer ta&#x0364;u&#x017F;cht,<lb/>
ob&#x017F;chon nicht betru&#x0364;gt, und al&#x017F;o zwar un&#x017F;cha&#x0364;dlich gemacht,<lb/>
aber niemals vertilgt werden kann.</p><lb/>
                      <p>Eine &#x017F;olche dialecti&#x017F;che Lehre wird &#x017F;ich nicht auf die<lb/>
Ver&#x017F;tandeseinheit in Erfahrungsbegriffen, &#x017F;ondern auf die<lb/>
Vernunfteinheit in blo&#x017F;&#x017F;en Ideen beziehen, deren Bedin-<lb/>
gungen, da &#x017F;ie er&#x017F;tlich, als Synthe&#x017F;is nach Regeln, dem<lb/>
Ver&#x017F;tande und doch zugleich, als ab&#x017F;olute Einheit der&#x017F;el-<lb/>
ben, der Vernunft congruiren &#x017F;oll, wenn &#x017F;ie der Vernunft-<lb/>
einheit ada&#x0364;quat i&#x017F;t, vor den Ver&#x017F;tand zu groß, und, wenn<lb/>
&#x017F;ie dem Ver&#x017F;tande angeme&#x017F;&#x017F;en, vor die Vernunft zu klein<lb/>
&#x017F;eyn wird; woraus denn ein Wider&#x017F;treit ent&#x017F;pringen muß,<lb/>
der nicht vermieden werden kan, man mag es anfangen,<lb/>
wie man will.</p><lb/>
                      <p>Die&#x017F;e vernu&#x0364;nftelnde Behauptungen ero&#x0364;fnen al&#x017F;o einen<lb/>
dialecti&#x017F;chen Kampfplatz, wo ieder Theil die Oberhand be-<lb/>
ha&#x0364;lt, der die Erlaubniß hat, den Angriff zu thun, und der-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">ieni-</fw><lb/></p>
                    </div>
                  </div>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[422/0452] Elementarl. II. Th. II. Abth. II. Buch. II. Hauptſt. ſcheidendes an ſich haben, daß er nicht eine willkuͤhrliche Frage betrift, die man nur in gewiſſer beliebiger Abſicht aufwirft, ſondern eine ſolche, auf die iede menſchliche Vernunft in ihrem Fortgange nothwendig ſtoſſen muß, und zweitens: daß er, mit ſeinem Gegenſatze, nicht blos einen gekuͤnſtelten Schein, der, wenn man ihn einſieht, ſogleich verſchwindet, ſondern einen natuͤrlichen und unver- meidlichen Schein bey ſich fuͤhre, der ſelbſt, wenn man nicht mehr durch ihn hintergangen wird, noch immer taͤuſcht, obſchon nicht betruͤgt, und alſo zwar unſchaͤdlich gemacht, aber niemals vertilgt werden kann. Eine ſolche dialectiſche Lehre wird ſich nicht auf die Verſtandeseinheit in Erfahrungsbegriffen, ſondern auf die Vernunfteinheit in bloſſen Ideen beziehen, deren Bedin- gungen, da ſie erſtlich, als Syntheſis nach Regeln, dem Verſtande und doch zugleich, als abſolute Einheit derſel- ben, der Vernunft congruiren ſoll, wenn ſie der Vernunft- einheit adaͤquat iſt, vor den Verſtand zu groß, und, wenn ſie dem Verſtande angemeſſen, vor die Vernunft zu klein ſeyn wird; woraus denn ein Widerſtreit entſpringen muß, der nicht vermieden werden kan, man mag es anfangen, wie man will. Dieſe vernuͤnftelnde Behauptungen eroͤfnen alſo einen dialectiſchen Kampfplatz, wo ieder Theil die Oberhand be- haͤlt, der die Erlaubniß hat, den Angriff zu thun, und der- ieni-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/452
Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 422. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/452>, abgerufen am 20.05.2024.