Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kant, Immanuel: Critik der practischen Vernunft. Riga, 1788.

Bild:
<< vorherige Seite

der reinen practischen Vernunft.
Freyheit, oder dem practischen Gesetze. Von der Freyheit kann
es nicht anheben; denn deren können wir uns weder unmittel-
bar bewußt werden, weil sein erster Begriff negativ ist, noch
darauf aus der Erfahrung schließen, denn Erfahrung giebt uns
nur das Gesetz der Erscheinungen, mithin den Mechanism
der Natur, das gerade Widerspiel der Freyheit, zu erkennen.
Also ist es das moralische Gesetz, dessen wir uns unmittel-
bar bewußt werden (so bald wir uns Maximen des Willens
entwerfen), welches sich uns zuerst darbietet, und, indem
die Vernunft jenes als einen durch keine sinnliche Bedingungen
zu überwiegenden, ja davon gänzlich unabhängigen Bestim-
mungsgrund darstellt, gerade auf den Begriff der. Freyheit
führt. Wie ist aber auch das Bewußtseyn jenes moralischen
Gesetzes möglich? Wir können uns reiner practischer Gesetze
bewußt werden, eben so, wie wir uns reiner theoretischer
Grundsätze bewußt sind, indem wir auf die Nothwendigkeit,
womit sie uns die Vernunft vorschreibt, und auf Absonderung
aller empirischen Bedingungen, dazu uns jene hinweiset, Acht
haben. Der Begriff eines reinen Willens entspringt aus den
ersteren, wie das Bewußtseyn eines reinen Verstandes aus
dem letzteren. Daß dieses die wahre Unterordung unserer
Begriffe sey, und Sittlichkeit uns zuerst den Begriff der Frey-
heit entdecke, mithin practische Vernunft zuerst der specula-
tiven das unauflöslichste Problem mit diesem Begriffe auf-
stelle, um sie durch denselben in die größte Verlegenheit zu
setzen, erhellet schon daraus: daß, da aus dem Begriffe der
Freyheit in den Erscheinungen nichts erklärt werden kann,
sondern hier immer Naturmechanism den Leitfaden ausmachen
muß, überdem auch die Antinomie der reinen Vernunft, wenn
sie zum Unbedingten in der Reihe der Ursachen aufsteigen will,
sich, bey einem so sehr wie bey dem andern, in Unbegreiflich-

keiten
D 3

der reinen practiſchen Vernunft.
Freyheit, oder dem practiſchen Geſetze. Von der Freyheit kann
es nicht anheben; denn deren koͤnnen wir uns weder unmittel-
bar bewußt werden, weil ſein erſter Begriff negativ iſt, noch
darauf aus der Erfahrung ſchließen, denn Erfahrung giebt uns
nur das Geſetz der Erſcheinungen, mithin den Mechanism
der Natur, das gerade Widerſpiel der Freyheit, zu erkennen.
Alſo iſt es das moraliſche Geſetz, deſſen wir uns unmittel-
bar bewußt werden (ſo bald wir uns Maximen des Willens
entwerfen), welches ſich uns zuerſt darbietet, und, indem
die Vernunft jenes als einen durch keine ſinnliche Bedingungen
zu uͤberwiegenden, ja davon gaͤnzlich unabhaͤngigen Beſtim-
mungsgrund darſtellt, gerade auf den Begriff der. Freyheit
fuͤhrt. Wie iſt aber auch das Bewußtſeyn jenes moraliſchen
Geſetzes moͤglich? Wir koͤnnen uns reiner practiſcher Geſetze
bewußt werden, eben ſo, wie wir uns reiner theoretiſcher
Grundſaͤtze bewußt ſind, indem wir auf die Nothwendigkeit,
womit ſie uns die Vernunft vorſchreibt, und auf Abſonderung
aller empiriſchen Bedingungen, dazu uns jene hinweiſet, Acht
haben. Der Begriff eines reinen Willens entſpringt aus den
erſteren, wie das Bewußtſeyn eines reinen Verſtandes aus
dem letzteren. Daß dieſes die wahre Unterordung unſerer
Begriffe ſey, und Sittlichkeit uns zuerſt den Begriff der Frey-
heit entdecke, mithin practiſche Vernunft zuerſt der ſpecula-
tiven das unaufloͤslichſte Problem mit dieſem Begriffe auf-
ſtelle, um ſie durch denſelben in die groͤßte Verlegenheit zu
ſetzen, erhellet ſchon daraus: daß, da aus dem Begriffe der
Freyheit in den Erſcheinungen nichts erklaͤrt werden kann,
ſondern hier immer Naturmechanism den Leitfaden ausmachen
muß, uͤberdem auch die Antinomie der reinen Vernunft, wenn
ſie zum Unbedingten in der Reihe der Urſachen aufſteigen will,
ſich, bey einem ſo ſehr wie bey dem andern, in Unbegreiflich-

keiten
D 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0061" n="53"/><fw place="top" type="header">der reinen practi&#x017F;chen Vernunft.</fw><lb/>
Freyheit, oder dem practi&#x017F;chen Ge&#x017F;etze. Von der Freyheit kann<lb/>
es nicht anheben; denn deren ko&#x0364;nnen wir uns weder unmittel-<lb/>
bar bewußt werden, weil &#x017F;ein er&#x017F;ter Begriff negativ i&#x017F;t, noch<lb/>
darauf aus der Erfahrung &#x017F;chließen, denn Erfahrung giebt uns<lb/>
nur das Ge&#x017F;etz der Er&#x017F;cheinungen, mithin den Mechanism<lb/>
der Natur, das gerade Wider&#x017F;piel der Freyheit, zu erkennen.<lb/>
Al&#x017F;o i&#x017F;t es das <hi rendition="#fr">morali&#x017F;che Ge&#x017F;etz,</hi> de&#x017F;&#x017F;en wir uns unmittel-<lb/>
bar bewußt werden (&#x017F;o bald wir uns Maximen des Willens<lb/>
entwerfen), welches &#x017F;ich uns <hi rendition="#fr">zuer&#x017F;t</hi> darbietet, und, indem<lb/>
die Vernunft jenes als einen durch keine &#x017F;innliche Bedingungen<lb/>
zu u&#x0364;berwiegenden, ja davon ga&#x0364;nzlich unabha&#x0364;ngigen Be&#x017F;tim-<lb/>
mungsgrund dar&#x017F;tellt, gerade auf den Begriff der. Freyheit<lb/>
fu&#x0364;hrt. Wie i&#x017F;t aber auch das Bewußt&#x017F;eyn jenes morali&#x017F;chen<lb/>
Ge&#x017F;etzes mo&#x0364;glich? Wir ko&#x0364;nnen uns reiner practi&#x017F;cher Ge&#x017F;etze<lb/>
bewußt werden, eben &#x017F;o, wie wir uns reiner theoreti&#x017F;cher<lb/>
Grund&#x017F;a&#x0364;tze bewußt &#x017F;ind, indem wir auf die Nothwendigkeit,<lb/>
womit &#x017F;ie uns die Vernunft vor&#x017F;chreibt, und auf Ab&#x017F;onderung<lb/>
aller empiri&#x017F;chen Bedingungen, dazu uns jene hinwei&#x017F;et, Acht<lb/>
haben. Der Begriff eines reinen Willens ent&#x017F;pringt aus den<lb/>
er&#x017F;teren, wie das Bewußt&#x017F;eyn eines reinen Ver&#x017F;tandes aus<lb/>
dem letzteren. Daß die&#x017F;es die wahre Unterordung un&#x017F;erer<lb/>
Begriffe &#x017F;ey, und Sittlichkeit uns zuer&#x017F;t den Begriff der Frey-<lb/>
heit entdecke, mithin <hi rendition="#fr">practi&#x017F;che Vernunft</hi> zuer&#x017F;t der &#x017F;pecula-<lb/>
tiven das unauflo&#x0364;slich&#x017F;te Problem mit die&#x017F;em Begriffe auf-<lb/>
&#x017F;telle, um &#x017F;ie durch den&#x017F;elben in die gro&#x0364;ßte Verlegenheit zu<lb/>
&#x017F;etzen, erhellet &#x017F;chon daraus: daß, da aus dem Begriffe der<lb/>
Freyheit in den Er&#x017F;cheinungen nichts erkla&#x0364;rt werden kann,<lb/>
&#x017F;ondern hier immer Naturmechanism den Leitfaden ausmachen<lb/>
muß, u&#x0364;berdem auch die Antinomie der reinen Vernunft, wenn<lb/>
&#x017F;ie zum Unbedingten in der Reihe der Ur&#x017F;achen auf&#x017F;teigen will,<lb/>
&#x017F;ich, bey einem &#x017F;o &#x017F;ehr wie bey dem andern, in Unbegreiflich-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">D 3</fw><fw place="bottom" type="catch">keiten</fw><lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[53/0061] der reinen practiſchen Vernunft. Freyheit, oder dem practiſchen Geſetze. Von der Freyheit kann es nicht anheben; denn deren koͤnnen wir uns weder unmittel- bar bewußt werden, weil ſein erſter Begriff negativ iſt, noch darauf aus der Erfahrung ſchließen, denn Erfahrung giebt uns nur das Geſetz der Erſcheinungen, mithin den Mechanism der Natur, das gerade Widerſpiel der Freyheit, zu erkennen. Alſo iſt es das moraliſche Geſetz, deſſen wir uns unmittel- bar bewußt werden (ſo bald wir uns Maximen des Willens entwerfen), welches ſich uns zuerſt darbietet, und, indem die Vernunft jenes als einen durch keine ſinnliche Bedingungen zu uͤberwiegenden, ja davon gaͤnzlich unabhaͤngigen Beſtim- mungsgrund darſtellt, gerade auf den Begriff der. Freyheit fuͤhrt. Wie iſt aber auch das Bewußtſeyn jenes moraliſchen Geſetzes moͤglich? Wir koͤnnen uns reiner practiſcher Geſetze bewußt werden, eben ſo, wie wir uns reiner theoretiſcher Grundſaͤtze bewußt ſind, indem wir auf die Nothwendigkeit, womit ſie uns die Vernunft vorſchreibt, und auf Abſonderung aller empiriſchen Bedingungen, dazu uns jene hinweiſet, Acht haben. Der Begriff eines reinen Willens entſpringt aus den erſteren, wie das Bewußtſeyn eines reinen Verſtandes aus dem letzteren. Daß dieſes die wahre Unterordung unſerer Begriffe ſey, und Sittlichkeit uns zuerſt den Begriff der Frey- heit entdecke, mithin practiſche Vernunft zuerſt der ſpecula- tiven das unaufloͤslichſte Problem mit dieſem Begriffe auf- ſtelle, um ſie durch denſelben in die groͤßte Verlegenheit zu ſetzen, erhellet ſchon daraus: daß, da aus dem Begriffe der Freyheit in den Erſcheinungen nichts erklaͤrt werden kann, ſondern hier immer Naturmechanism den Leitfaden ausmachen muß, uͤberdem auch die Antinomie der reinen Vernunft, wenn ſie zum Unbedingten in der Reihe der Urſachen aufſteigen will, ſich, bey einem ſo ſehr wie bey dem andern, in Unbegreiflich- keiten D 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_pvernunft_1788
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_pvernunft_1788/61
Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der practischen Vernunft. Riga, 1788, S. 53. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_pvernunft_1788/61>, abgerufen am 23.11.2024.