Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kant, Immanuel: Critik der practischen Vernunft. Riga, 1788.

Bild:
<< vorherige Seite

I. Th. II. B. II. Hauptst. Von der Dialectik
nothwendig begleiten muß, anzeigete? Ja! dieses Wort
ist Selbstzufriedenheit, welches in seiner eigentlichen
Bedeutung jederzeit nur ein negatives Wohlgefallen an
seiner Existenz andeutet, in welchem man nichts zu be-
dürfen sich bewußt ist. Freyheit und das Bewußtseyn
derselben, als eines Vermögens, mit überwiegender
Gesinnung das moralische Gesetz zu befolgen, ist Un-
abhängigkeit von Neigungen,
wenigstens als bestim-
menden (wenn gleich nicht als afficirenden) Bewegur-
sachen unseres Begehrens, und, so fern, als ich mir
derselben in der Befolgung meiner moralischen Maximen
bewußt bin, der einzige Quell einer nothwendig da-
mit verbundenen, auf keinem besonderen Gefühle beru-
henden, unveränderlichen Zufriedenheit, und diese kann
intellectuel heißen. Die ästhetische (die uneigentlich so
genannt wird), welche auf der Befriedigung der Neigun-
gen, so fein sie auch immer ausgeklügelt werden mögen,
beruht, kann niemals dem, was man sich darüber
denkt, adäquat seyn. Denn die Neigungen wechseln,
wachsen mit der Begünstigung, die man ihnen wider-
fahren läßt, und lassen immer ein noch größeres Leeres
übrig, als man auszufüllen gedacht hat. Daher sind
sie einem vernünftigen Wesen jederzeit lästig, und wenn
es sie gleich nicht abzulegen vermag, so nöthigen sie ihm
doch den Wunsch ab, ihrer entledigt zu seyn. Selbst
eine Neigung zum Pflichtmäßigen (z. B. zur Wohlthä-
tigkeit) kann zwar die Wirksamkeit der moralischen Ma-

ximen

I. Th. II. B. II. Hauptſt. Von der Dialectik
nothwendig begleiten muß, anzeigete? Ja! dieſes Wort
iſt Selbſtzufriedenheit, welches in ſeiner eigentlichen
Bedeutung jederzeit nur ein negatives Wohlgefallen an
ſeiner Exiſtenz andeutet, in welchem man nichts zu be-
duͤrfen ſich bewußt iſt. Freyheit und das Bewußtſeyn
derſelben, als eines Vermoͤgens, mit uͤberwiegender
Geſinnung das moraliſche Geſetz zu befolgen, iſt Un-
abhaͤngigkeit von Neigungen,
wenigſtens als beſtim-
menden (wenn gleich nicht als afficirenden) Bewegur-
ſachen unſeres Begehrens, und, ſo fern, als ich mir
derſelben in der Befolgung meiner moraliſchen Maximen
bewußt bin, der einzige Quell einer nothwendig da-
mit verbundenen, auf keinem beſonderen Gefuͤhle beru-
henden, unveraͤnderlichen Zufriedenheit, und dieſe kann
intellectuel heißen. Die aͤſthetiſche (die uneigentlich ſo
genannt wird), welche auf der Befriedigung der Neigun-
gen, ſo fein ſie auch immer ausgekluͤgelt werden moͤgen,
beruht, kann niemals dem, was man ſich daruͤber
denkt, adaͤquat ſeyn. Denn die Neigungen wechſeln,
wachſen mit der Beguͤnſtigung, die man ihnen wider-
fahren laͤßt, und laſſen immer ein noch groͤßeres Leeres
uͤbrig, als man auszufuͤllen gedacht hat. Daher ſind
ſie einem vernuͤnftigen Weſen jederzeit laͤſtig, und wenn
es ſie gleich nicht abzulegen vermag, ſo noͤthigen ſie ihm
doch den Wunſch ab, ihrer entledigt zu ſeyn. Selbſt
eine Neigung zum Pflichtmaͤßigen (z. B. zur Wohlthaͤ-
tigkeit) kann zwar die Wirkſamkeit der moraliſchen Ma-

ximen
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0220" n="212"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">I.</hi> Th. <hi rendition="#aq">II.</hi> B. <hi rendition="#aq">II.</hi> Haupt&#x017F;t. Von der Dialectik</fw><lb/>
nothwendig begleiten muß, anzeigete? Ja! die&#x017F;es Wort<lb/>
i&#x017F;t <hi rendition="#fr">Selb&#x017F;tzufriedenheit,</hi> welches in &#x017F;einer eigentlichen<lb/>
Bedeutung jederzeit nur ein negatives Wohlgefallen an<lb/>
&#x017F;einer Exi&#x017F;tenz andeutet, in welchem man nichts zu be-<lb/>
du&#x0364;rfen &#x017F;ich bewußt i&#x017F;t. Freyheit und das Bewußt&#x017F;eyn<lb/>
der&#x017F;elben, als eines Vermo&#x0364;gens, mit u&#x0364;berwiegender<lb/>
Ge&#x017F;innung das morali&#x017F;che Ge&#x017F;etz zu befolgen, i&#x017F;t <hi rendition="#fr">Un-<lb/>
abha&#x0364;ngigkeit von Neigungen,</hi> wenig&#x017F;tens als be&#x017F;tim-<lb/>
menden (wenn gleich nicht als <hi rendition="#fr">afficirenden</hi>) Bewegur-<lb/>
&#x017F;achen un&#x017F;eres Begehrens, und, &#x017F;o fern, als ich mir<lb/>
der&#x017F;elben in der Befolgung meiner morali&#x017F;chen Maximen<lb/>
bewußt bin, der einzige Quell einer nothwendig da-<lb/>
mit verbundenen, auf keinem be&#x017F;onderen Gefu&#x0364;hle beru-<lb/>
henden, unvera&#x0364;nderlichen Zufriedenheit, und die&#x017F;e kann<lb/>
intellectuel heißen. Die a&#x0364;&#x017F;theti&#x017F;che (die uneigentlich &#x017F;o<lb/>
genannt wird), welche auf der Befriedigung der Neigun-<lb/>
gen, &#x017F;o fein &#x017F;ie auch immer ausgeklu&#x0364;gelt werden mo&#x0364;gen,<lb/>
beruht, kann niemals dem, was man &#x017F;ich daru&#x0364;ber<lb/>
denkt, ada&#x0364;quat &#x017F;eyn. Denn die Neigungen wech&#x017F;eln,<lb/>
wach&#x017F;en mit der Begu&#x0364;n&#x017F;tigung, die man ihnen wider-<lb/>
fahren la&#x0364;ßt, und la&#x017F;&#x017F;en immer ein noch gro&#x0364;ßeres Leeres<lb/>
u&#x0364;brig, als man auszufu&#x0364;llen gedacht hat. Daher &#x017F;ind<lb/>
&#x017F;ie einem vernu&#x0364;nftigen We&#x017F;en jederzeit <hi rendition="#fr">la&#x0364;&#x017F;tig,</hi> und wenn<lb/>
es &#x017F;ie gleich nicht abzulegen vermag, &#x017F;o no&#x0364;thigen &#x017F;ie ihm<lb/>
doch den Wun&#x017F;ch ab, ihrer entledigt zu &#x017F;eyn. Selb&#x017F;t<lb/>
eine Neigung zum Pflichtma&#x0364;ßigen (z. B. zur Wohltha&#x0364;-<lb/>
tigkeit) kann zwar die Wirk&#x017F;amkeit der <hi rendition="#fr">morali&#x017F;chen</hi> Ma-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">ximen</fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[212/0220] I. Th. II. B. II. Hauptſt. Von der Dialectik nothwendig begleiten muß, anzeigete? Ja! dieſes Wort iſt Selbſtzufriedenheit, welches in ſeiner eigentlichen Bedeutung jederzeit nur ein negatives Wohlgefallen an ſeiner Exiſtenz andeutet, in welchem man nichts zu be- duͤrfen ſich bewußt iſt. Freyheit und das Bewußtſeyn derſelben, als eines Vermoͤgens, mit uͤberwiegender Geſinnung das moraliſche Geſetz zu befolgen, iſt Un- abhaͤngigkeit von Neigungen, wenigſtens als beſtim- menden (wenn gleich nicht als afficirenden) Bewegur- ſachen unſeres Begehrens, und, ſo fern, als ich mir derſelben in der Befolgung meiner moraliſchen Maximen bewußt bin, der einzige Quell einer nothwendig da- mit verbundenen, auf keinem beſonderen Gefuͤhle beru- henden, unveraͤnderlichen Zufriedenheit, und dieſe kann intellectuel heißen. Die aͤſthetiſche (die uneigentlich ſo genannt wird), welche auf der Befriedigung der Neigun- gen, ſo fein ſie auch immer ausgekluͤgelt werden moͤgen, beruht, kann niemals dem, was man ſich daruͤber denkt, adaͤquat ſeyn. Denn die Neigungen wechſeln, wachſen mit der Beguͤnſtigung, die man ihnen wider- fahren laͤßt, und laſſen immer ein noch groͤßeres Leeres uͤbrig, als man auszufuͤllen gedacht hat. Daher ſind ſie einem vernuͤnftigen Weſen jederzeit laͤſtig, und wenn es ſie gleich nicht abzulegen vermag, ſo noͤthigen ſie ihm doch den Wunſch ab, ihrer entledigt zu ſeyn. Selbſt eine Neigung zum Pflichtmaͤßigen (z. B. zur Wohlthaͤ- tigkeit) kann zwar die Wirkſamkeit der moraliſchen Ma- ximen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_pvernunft_1788
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_pvernunft_1788/220
Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der practischen Vernunft. Riga, 1788, S. 212. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_pvernunft_1788/220>, abgerufen am 22.11.2024.