der rein. Vern. in Best. des Begr. vom höchst. Gut.
Man muß bedauren, daß die Scharfsinnigkeit die- fer Männer (die man doch zugleich darüber bewundern muß, daß sie in so frühen Zeiten schon alle erdenkliche Wege philosophischer Eroberungen versuchten) unglück- lich angewandt war, zwischen äußerst ungleichartigen Begriffen, dem der Glückseligkeit und dem der Tugend, Identität zu ergrübeln. Allein es war dem dialectischen Geiste ihrer Zeiten angemessen, was auch jetzt biswei- len subtile Köpfe verleitet, wesentliche und nie zu ver- einigende Unterschiede in Principien dadurch aufzuhe- ben, daß man sie in Wortstreit zu verwandeln sucht, und so, dem Scheine nach, Einheit des Begriffs blos unter verschiedenen Benennungen erkünstelt, und die- ses trifft gemeiniglich solche Fäile, wo die Vereinigung ungleichartiger Gründe so tief oder hoch liegt, oder eine so gänzliche Umänderung der sonst im philosophi- schen System angenommenen Lehren erfodern würde, daß man Scheu trägt sich in den realen Unterschied tief einzulassen, und ihn lieber als Uneinigkeit in bloßen For- malien behandelt.
Indem beide Schulen Einerleyheit der practischen Principien der Tugend und Glückseligkeit zu ergrübeln suchten, so waren sie darum nicht unter sich einhellig, wie sie diese Identität herauszwingen wollten, sondern schieden sich in unendliche Weiten von einander, indem die eine ihr Princip auf der ästhetischen, die andere auf der logischen Seite, jene im Bewußtseyn der sinn-
lichen
N 5
der rein. Vern. in Beſt. des Begr. vom hoͤchſt. Gut.
Man muß bedauren, daß die Scharfſinnigkeit die- fer Maͤnner (die man doch zugleich daruͤber bewundern muß, daß ſie in ſo fruͤhen Zeiten ſchon alle erdenkliche Wege philoſophiſcher Eroberungen verſuchten) ungluͤck- lich angewandt war, zwiſchen aͤußerſt ungleichartigen Begriffen, dem der Gluͤckſeligkeit und dem der Tugend, Identitaͤt zu ergruͤbeln. Allein es war dem dialectiſchen Geiſte ihrer Zeiten angemeſſen, was auch jetzt biswei- len ſubtile Koͤpfe verleitet, weſentliche und nie zu ver- einigende Unterſchiede in Principien dadurch aufzuhe- ben, daß man ſie in Wortſtreit zu verwandeln ſucht, und ſo, dem Scheine nach, Einheit des Begriffs blos unter verſchiedenen Benennungen erkuͤnſtelt, und die- ſes trifft gemeiniglich ſolche Faͤile, wo die Vereinigung ungleichartiger Gruͤnde ſo tief oder hoch liegt, oder eine ſo gaͤnzliche Umaͤnderung der ſonſt im philoſophi- ſchen Syſtem angenommenen Lehren erfodern wuͤrde, daß man Scheu traͤgt ſich in den realen Unterſchied tief einzulaſſen, und ihn lieber als Uneinigkeit in bloßen For- malien behandelt.
Indem beide Schulen Einerleyheit der practiſchen Principien der Tugend und Gluͤckſeligkeit zu ergruͤbeln ſuchten, ſo waren ſie darum nicht unter ſich einhellig, wie ſie dieſe Identitaͤt herauszwingen wollten, ſondern ſchieden ſich in unendliche Weiten von einander, indem die eine ihr Princip auf der aͤſthetiſchen, die andere auf der logiſchen Seite, jene im Bewußtſeyn der ſinn-
lichen
N 5
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0209"n="201"/><fwplace="top"type="header">der rein. Vern. in Beſt. des Begr. vom hoͤchſt. Gut.</fw><lb/><p>Man muß bedauren, daß die Scharfſinnigkeit die-<lb/>
fer Maͤnner (die man doch zugleich daruͤber bewundern<lb/>
muß, daß ſie in ſo fruͤhen Zeiten ſchon alle erdenkliche<lb/>
Wege philoſophiſcher Eroberungen verſuchten) ungluͤck-<lb/>
lich angewandt war, zwiſchen aͤußerſt ungleichartigen<lb/>
Begriffen, dem der Gluͤckſeligkeit und dem der Tugend,<lb/>
Identitaͤt zu ergruͤbeln. Allein es war dem dialectiſchen<lb/>
Geiſte ihrer Zeiten angemeſſen, was auch jetzt biswei-<lb/>
len ſubtile Koͤpfe verleitet, weſentliche und nie zu ver-<lb/>
einigende Unterſchiede in Principien dadurch aufzuhe-<lb/>
ben, daß man ſie in Wortſtreit zu verwandeln ſucht,<lb/>
und ſo, dem Scheine nach, Einheit des Begriffs blos<lb/>
unter verſchiedenen Benennungen erkuͤnſtelt, und die-<lb/>ſes trifft gemeiniglich ſolche Faͤile, wo die Vereinigung<lb/>
ungleichartiger Gruͤnde ſo tief oder hoch liegt, oder<lb/>
eine ſo gaͤnzliche Umaͤnderung der ſonſt im philoſophi-<lb/>ſchen Syſtem angenommenen Lehren erfodern wuͤrde,<lb/>
daß man Scheu traͤgt ſich in den realen Unterſchied tief<lb/>
einzulaſſen, und ihn lieber als Uneinigkeit in bloßen For-<lb/>
malien behandelt.</p><lb/><p>Indem beide Schulen Einerleyheit der practiſchen<lb/>
Principien der Tugend und Gluͤckſeligkeit zu ergruͤbeln<lb/>ſuchten, ſo waren ſie darum nicht unter ſich einhellig,<lb/>
wie ſie dieſe Identitaͤt herauszwingen wollten, ſondern<lb/>ſchieden ſich in unendliche Weiten von einander, indem<lb/>
die eine ihr Princip auf der aͤſthetiſchen, die andere<lb/>
auf der logiſchen Seite, jene im Bewußtſeyn der ſinn-<lb/><fwplace="bottom"type="sig">N 5</fw><fwplace="bottom"type="catch">lichen</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[201/0209]
der rein. Vern. in Beſt. des Begr. vom hoͤchſt. Gut.
Man muß bedauren, daß die Scharfſinnigkeit die-
fer Maͤnner (die man doch zugleich daruͤber bewundern
muß, daß ſie in ſo fruͤhen Zeiten ſchon alle erdenkliche
Wege philoſophiſcher Eroberungen verſuchten) ungluͤck-
lich angewandt war, zwiſchen aͤußerſt ungleichartigen
Begriffen, dem der Gluͤckſeligkeit und dem der Tugend,
Identitaͤt zu ergruͤbeln. Allein es war dem dialectiſchen
Geiſte ihrer Zeiten angemeſſen, was auch jetzt biswei-
len ſubtile Koͤpfe verleitet, weſentliche und nie zu ver-
einigende Unterſchiede in Principien dadurch aufzuhe-
ben, daß man ſie in Wortſtreit zu verwandeln ſucht,
und ſo, dem Scheine nach, Einheit des Begriffs blos
unter verſchiedenen Benennungen erkuͤnſtelt, und die-
ſes trifft gemeiniglich ſolche Faͤile, wo die Vereinigung
ungleichartiger Gruͤnde ſo tief oder hoch liegt, oder
eine ſo gaͤnzliche Umaͤnderung der ſonſt im philoſophi-
ſchen Syſtem angenommenen Lehren erfodern wuͤrde,
daß man Scheu traͤgt ſich in den realen Unterſchied tief
einzulaſſen, und ihn lieber als Uneinigkeit in bloßen For-
malien behandelt.
Indem beide Schulen Einerleyheit der practiſchen
Principien der Tugend und Gluͤckſeligkeit zu ergruͤbeln
ſuchten, ſo waren ſie darum nicht unter ſich einhellig,
wie ſie dieſe Identitaͤt herauszwingen wollten, ſondern
ſchieden ſich in unendliche Weiten von einander, indem
die eine ihr Princip auf der aͤſthetiſchen, die andere
auf der logiſchen Seite, jene im Bewußtſeyn der ſinn-
lichen
N 5
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Kant, Immanuel: Critik der practischen Vernunft. Riga, 1788, S. 201. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_pvernunft_1788/209>, abgerufen am 16.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.