Zweytes Hauptstück. Von der Dialectik der reinen Vernunft in Bestimmung des Begriffs vom höchsten Gut.
Der Begriff des Höchsten enthält schon eine Zwey- deutigkeit, die, wenn man darauf nicht Acht hat, unnöthige Streitigkeiten veranlassen kann. Das Höchste kann das Oberste (supremum) oder auch das Vollendete (consummatum) bedeuten. Das erstere ist diejenige Bedingung, die selbst unbedingt d. i. kei- ner andern untergeordnet ist (originarium); das zwey- te, dasjenige Ganze, das kein Theil eines noch größe- ren Ganzen von derselben Art ist (perfectissimum). Daß Tugend (als die Würdigkeit glücklich zu seyn) die oberste Bedingung alles dessen, was uns nur wünschenswerth scheinen mag, mithin auch aller unse- rer Bewerbung um Glückseligkeit, mithin das oberste Gut sey, ist in der Analytik bewiesen worden. Darum ist sie aber noch nicht das ganze und vollendete Gut, als Gegenstand des Begehrungsvermögens vernünfti- ger endlicher Wesen; denn, um das zu seyn, wird auch Glückseligkeit dazu erfodert, und zwar nicht blos in den
par-
I. Th. II. B. II. Hauptſt. Von der Dialectik
Zweytes Hauptſtuͤck. Von der Dialectik der reinen Vernunft in Beſtimmung des Begriffs vom hoͤchſten Gut.
Der Begriff des Hoͤchſten enthaͤlt ſchon eine Zwey- deutigkeit, die, wenn man darauf nicht Acht hat, unnoͤthige Streitigkeiten veranlaſſen kann. Das Hoͤchſte kann das Oberſte (ſupremum) oder auch das Vollendete (conſummatum) bedeuten. Das erſtere iſt diejenige Bedingung, die ſelbſt unbedingt d. i. kei- ner andern untergeordnet iſt (originarium); das zwey- te, dasjenige Ganze, das kein Theil eines noch groͤße- ren Ganzen von derſelben Art iſt (perfectiſſimum). Daß Tugend (als die Wuͤrdigkeit gluͤcklich zu ſeyn) die oberſte Bedingung alles deſſen, was uns nur wuͤnſchenswerth ſcheinen mag, mithin auch aller unſe- rer Bewerbung um Gluͤckſeligkeit, mithin das oberſte Gut ſey, iſt in der Analytik bewieſen worden. Darum iſt ſie aber noch nicht das ganze und vollendete Gut, als Gegenſtand des Begehrungsvermoͤgens vernuͤnfti- ger endlicher Weſen; denn, um das zu ſeyn, wird auch Gluͤckſeligkeit dazu erfodert, und zwar nicht blos in den
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I. Th. II. B. II. Hauptſt. Von der Dialectik
Zweytes Hauptſtuͤck.
Von der
Dialectik der reinen Vernunft
in Beſtimmung des Begriffs
vom hoͤchſten Gut.
Der Begriff des Hoͤchſten enthaͤlt ſchon eine Zwey-
deutigkeit, die, wenn man darauf nicht Acht
hat, unnoͤthige Streitigkeiten veranlaſſen kann. Das
Hoͤchſte kann das Oberſte (ſupremum) oder auch das
Vollendete (conſummatum) bedeuten. Das erſtere
iſt diejenige Bedingung, die ſelbſt unbedingt d. i. kei-
ner andern untergeordnet iſt (originarium); das zwey-
te, dasjenige Ganze, das kein Theil eines noch groͤße-
ren Ganzen von derſelben Art iſt (perfectiſſimum).
Daß Tugend (als die Wuͤrdigkeit gluͤcklich zu ſeyn)
die oberſte Bedingung alles deſſen, was uns nur
wuͤnſchenswerth ſcheinen mag, mithin auch aller unſe-
rer Bewerbung um Gluͤckſeligkeit, mithin das oberſte
Gut ſey, iſt in der Analytik bewieſen worden. Darum
iſt ſie aber noch nicht das ganze und vollendete Gut,
als Gegenſtand des Begehrungsvermoͤgens vernuͤnfti-
ger endlicher Weſen; denn, um das zu ſeyn, wird auch
Gluͤckſeligkeit dazu erfodert, und zwar nicht blos in den
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Kant, Immanuel: Critik der practischen Vernunft. Riga, 1788, S. 198. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_pvernunft_1788/206>, abgerufen am 16.02.2025.
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