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Kant, Immanuel: Critik der practischen Vernunft. Riga, 1788.

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I. Th. I. B. II. Hauptst. Von dem Begriffe
zogen, und, sollte etwas schlechthin (und in aller Ab-
sicht und ohne weitere Bedingung) gut oder böse seyn,
oder dafür gehalten werden, so würde es nur die Hand-
lungsart, die Maxime des Willens und mithin die han-
delnde Person selbst, als guter oder böser Mensch, nicht
aber eine Sache seyn, die so genannt werden könnte.

Man mochte also immer den Stoiker auslachen,
der in den heftigsten Gichtschmerzen ausrief: Schmerz,
du magst mich noch so sehr foltern, ich werde doch nie
gestehen, daß du etwas Böses (kakon, malum) seyst!
er hatte doch recht. Ein Uebel war es, das fühlte er,
und das verrieth sein Geschrey; aber daß ihm dadurch
ein Böses anhinge, hatte er gar nicht Ursache einzuräu-
men; denn der Schmerz verringert den Werth seiner
Person nicht im mindesten, sondern nur den Werth
seines Zustandes. Eine einzige Lüge, deren er sich be-
wußt gewesen wäre, hätte seinen Muth niederschlagen
müssen; aber der Schmerz diente nur zur Veranlas-
sung, ihn zu erheben, wenn er sich bewußt war, daß er
sie durch keine unrechte Handlung verschuldet und sich
dadurch strafwürdig gemacht habe.

Was wir gut nennen sollen, muß in jedes ver-
nünftigen Menschen Urtheil ein Gegenstand des Begeh-
rungsvermögens seyn, und das Böse in den Augen von
jedermann ein Gegenstand des Abscheues; mithin be-
darf es, außer dem Sinne, zu dieser Beurtheilung noch

Ver-

I. Th. I. B. II. Hauptſt. Von dem Begriffe
zogen, und, ſollte etwas ſchlechthin (und in aller Ab-
ſicht und ohne weitere Bedingung) gut oder boͤſe ſeyn,
oder dafuͤr gehalten werden, ſo wuͤrde es nur die Hand-
lungsart, die Maxime des Willens und mithin die han-
delnde Perſon ſelbſt, als guter oder boͤſer Menſch, nicht
aber eine Sache ſeyn, die ſo genannt werden koͤnnte.

Man mochte alſo immer den Stoiker auslachen,
der in den heftigſten Gichtſchmerzen ausrief: Schmerz,
du magſt mich noch ſo ſehr foltern, ich werde doch nie
geſtehen, daß du etwas Boͤſes (κακον, malum) ſeyſt!
er hatte doch recht. Ein Uebel war es, das fuͤhlte er,
und das verrieth ſein Geſchrey; aber daß ihm dadurch
ein Boͤſes anhinge, hatte er gar nicht Urſache einzuraͤu-
men; denn der Schmerz verringert den Werth ſeiner
Perſon nicht im mindeſten, ſondern nur den Werth
ſeines Zuſtandes. Eine einzige Luͤge, deren er ſich be-
wußt geweſen waͤre, haͤtte ſeinen Muth niederſchlagen
muͤſſen; aber der Schmerz diente nur zur Veranlaſ-
ſung, ihn zu erheben, wenn er ſich bewußt war, daß er
ſie durch keine unrechte Handlung verſchuldet und ſich
dadurch ſtrafwuͤrdig gemacht habe.

Was wir gut nennen ſollen, muß in jedes ver-
nuͤnftigen Menſchen Urtheil ein Gegenſtand des Begeh-
rungsvermoͤgens ſeyn, und das Boͤſe in den Augen von
jedermann ein Gegenſtand des Abſcheues; mithin be-
darf es, außer dem Sinne, zu dieſer Beurtheilung noch

Ver-
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[106/0114] I. Th. I. B. II. Hauptſt. Von dem Begriffe zogen, und, ſollte etwas ſchlechthin (und in aller Ab- ſicht und ohne weitere Bedingung) gut oder boͤſe ſeyn, oder dafuͤr gehalten werden, ſo wuͤrde es nur die Hand- lungsart, die Maxime des Willens und mithin die han- delnde Perſon ſelbſt, als guter oder boͤſer Menſch, nicht aber eine Sache ſeyn, die ſo genannt werden koͤnnte. Man mochte alſo immer den Stoiker auslachen, der in den heftigſten Gichtſchmerzen ausrief: Schmerz, du magſt mich noch ſo ſehr foltern, ich werde doch nie geſtehen, daß du etwas Boͤſes (κακον, malum) ſeyſt! er hatte doch recht. Ein Uebel war es, das fuͤhlte er, und das verrieth ſein Geſchrey; aber daß ihm dadurch ein Boͤſes anhinge, hatte er gar nicht Urſache einzuraͤu- men; denn der Schmerz verringert den Werth ſeiner Perſon nicht im mindeſten, ſondern nur den Werth ſeines Zuſtandes. Eine einzige Luͤge, deren er ſich be- wußt geweſen waͤre, haͤtte ſeinen Muth niederſchlagen muͤſſen; aber der Schmerz diente nur zur Veranlaſ- ſung, ihn zu erheben, wenn er ſich bewußt war, daß er ſie durch keine unrechte Handlung verſchuldet und ſich dadurch ſtrafwuͤrdig gemacht habe. Was wir gut nennen ſollen, muß in jedes ver- nuͤnftigen Menſchen Urtheil ein Gegenſtand des Begeh- rungsvermoͤgens ſeyn, und das Boͤſe in den Augen von jedermann ein Gegenſtand des Abſcheues; mithin be- darf es, außer dem Sinne, zu dieſer Beurtheilung noch Ver-

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Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der practischen Vernunft. Riga, 1788, S. 106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_pvernunft_1788/114>, abgerufen am 24.11.2024.