Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kant, Immanuel: Über Pädagogik. Königsberg, 1803.

Bild:
<< vorherige Seite

übersehen, oder falsch erklärt, wie Crugott. Die Pflicht gegen sich selbst aber besteht, wie gesagt, darin, daß der Mensch die Würde der Menschheit in seiner eignen Person bewahre. Er tadelt sich, wenn er die Idee der Menschheit vor Augen hat. Er hat ein Original in seiner Idee, mit dem er sich vergleicht. Wenn die Zahl der Jahre anwächst, wenn die Neigung zum Geschlechte sich zu regen beginnt, dann ist der kritische Zeitpunkt, in dem die Würde des Menschen allein im Stande ist, den Jüngling in Schranken zu halten. Frühe muß man aber dem Jünglinge Winke geben, wie er sich, vor diesem oder jenem zu bewahren habe *).

Unsern Schulen fehlt fast durchgängig etwas, was doch sehr die Bildung der Kinder zur Rechtschaffenheit befördern würde, nämlich ein Catechismus des Rechts. Er müßte Fälle enthalten, die populär wären, sich im gemeinen Leben zutragen, und bey denen immer die Frage ungesucht einträte: ob etwas recht sey oder nicht? z. E. wenn Jemand, der heute seinem Creditor bezahlen soll, durch den Anblick eines Nothleidenden gerührt wird, und ihm die Summe, die er schuldig ist, und nun bezahlen sollte hingiebt: ist das recht oder nicht? Nein! es ist unrecht, denn ich muß frey seyn, wenn ich Wohlthaten thun will. Und, wenn ich das Geld dem Armen gebe, so thue ich ein verdienstliches Werk; bezahle ich aber meine Schuld, so thue ich ein schuldiges Werk. Ferner, ob wohl eine Nothlüge

*) Das früheste Gefühl dieser Würde ist die Scham, daher Pudor primus virtutis honos. Vergl. Horat. Sat. I. 6. 82.
A. d. H.

übersehen, oder falsch erklärt, wie Crugott. Die Pflicht gegen sich selbst aber besteht, wie gesagt, darin, daß der Mensch die Würde der Menschheit in seiner eignen Person bewahre. Er tadelt sich, wenn er die Idee der Menschheit vor Augen hat. Er hat ein Original in seiner Idee, mit dem er sich vergleicht. Wenn die Zahl der Jahre anwächst, wenn die Neigung zum Geschlechte sich zu regen beginnt, dann ist der kritische Zeitpunkt, in dem die Würde des Menschen allein im Stande ist, den Jüngling in Schranken zu halten. Frühe muß man aber dem Jünglinge Winke geben, wie er sich, vor diesem oder jenem zu bewahren habe *).

Unsern Schulen fehlt fast durchgängig etwas, was doch sehr die Bildung der Kinder zur Rechtschaffenheit befördern würde, nämlich ein Catechismus des Rechts. Er müßte Fälle enthalten, die populär wären, sich im gemeinen Leben zutragen, und bey denen immer die Frage ungesucht einträte: ob etwas recht sey oder nicht? z. E. wenn Jemand, der heute seinem Creditor bezahlen soll, durch den Anblick eines Nothleidenden gerührt wird, und ihm die Summe, die er schuldig ist, und nun bezahlen sollte hingiebt: ist das recht oder nicht? Nein! es ist unrecht, denn ich muß frey seyn, wenn ich Wohlthaten thun will. Und, wenn ich das Geld dem Armen gebe, so thue ich ein verdienstliches Werk; bezahle ich aber meine Schuld, so thue ich ein schuldiges Werk. Ferner, ob wohl eine Nothlüge

*) Das früheste Gefühl dieser Würde ist die Scham, daher Pudor primus virtutis honos. Vergl. Horat. Sat. I. 6. 82.
A. d. H.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0086" n="86"/>
übersehen, oder falsch erklärt, wie Crugott. Die Pflicht gegen sich selbst aber besteht, wie gesagt, darin, daß der Mensch die Würde der Menschheit in seiner eignen Person bewahre. Er tadelt sich, wenn er die Idee der Menschheit vor Augen hat. Er hat ein Original in seiner Idee, mit dem er sich vergleicht. Wenn die Zahl der Jahre anwächst, wenn die Neigung zum Geschlechte sich zu regen beginnt, dann ist der kritische Zeitpunkt, in dem die Würde des Menschen allein im Stande ist, den Jüngling in Schranken zu halten. Frühe muß man aber dem Jünglinge Winke geben, wie er sich, vor diesem oder jenem zu bewahren habe <note place="foot" n="*)">Das früheste Gefühl dieser Würde ist die Scham, daher <hi rendition="#aq">Pudor primus virtutis honos</hi>. Vergl. <hi rendition="#aq">Horat. Sat. I.</hi> 6. 82.<lb/><hi rendition="#right">A. d. H.</hi></note>.</p>
            <p>Unsern Schulen fehlt fast durchgängig etwas, was doch sehr die Bildung der Kinder zur Rechtschaffenheit befördern würde, nämlich ein Catechismus des Rechts. Er müßte Fälle enthalten, die populär wären, sich im gemeinen Leben zutragen, und bey denen immer die Frage ungesucht einträte: ob etwas recht sey oder nicht? z. E. wenn Jemand, der heute seinem Creditor bezahlen soll, durch den Anblick eines Nothleidenden gerührt wird, und ihm die Summe, die er schuldig ist, und nun bezahlen sollte hingiebt: ist das recht oder nicht? Nein! es ist unrecht, denn ich muß frey seyn, wenn ich Wohlthaten thun will. Und, wenn ich das Geld dem Armen gebe, so thue ich ein verdienstliches Werk; bezahle ich aber meine Schuld, so thue ich ein schuldiges Werk. Ferner, ob wohl eine Nothlüge
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[86/0086] übersehen, oder falsch erklärt, wie Crugott. Die Pflicht gegen sich selbst aber besteht, wie gesagt, darin, daß der Mensch die Würde der Menschheit in seiner eignen Person bewahre. Er tadelt sich, wenn er die Idee der Menschheit vor Augen hat. Er hat ein Original in seiner Idee, mit dem er sich vergleicht. Wenn die Zahl der Jahre anwächst, wenn die Neigung zum Geschlechte sich zu regen beginnt, dann ist der kritische Zeitpunkt, in dem die Würde des Menschen allein im Stande ist, den Jüngling in Schranken zu halten. Frühe muß man aber dem Jünglinge Winke geben, wie er sich, vor diesem oder jenem zu bewahren habe *). Unsern Schulen fehlt fast durchgängig etwas, was doch sehr die Bildung der Kinder zur Rechtschaffenheit befördern würde, nämlich ein Catechismus des Rechts. Er müßte Fälle enthalten, die populär wären, sich im gemeinen Leben zutragen, und bey denen immer die Frage ungesucht einträte: ob etwas recht sey oder nicht? z. E. wenn Jemand, der heute seinem Creditor bezahlen soll, durch den Anblick eines Nothleidenden gerührt wird, und ihm die Summe, die er schuldig ist, und nun bezahlen sollte hingiebt: ist das recht oder nicht? Nein! es ist unrecht, denn ich muß frey seyn, wenn ich Wohlthaten thun will. Und, wenn ich das Geld dem Armen gebe, so thue ich ein verdienstliches Werk; bezahle ich aber meine Schuld, so thue ich ein schuldiges Werk. Ferner, ob wohl eine Nothlüge *) Das früheste Gefühl dieser Würde ist die Scham, daher Pudor primus virtutis honos. Vergl. Horat. Sat. I. 6. 82. A. d. H.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2012-12-05T13:54:31Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Google Books: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-12-05T13:54:31Z)
Frederike Neuber: Konvertierung von Wikisource-Markup nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2012-12-05T13:54:31Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_paedagogik_1803
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_paedagogik_1803/86
Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Über Pädagogik. Königsberg, 1803, S. 86. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_paedagogik_1803/86>, abgerufen am 28.04.2024.