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Kant, Immanuel: Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels. Königsberg u. a., 1755.

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und Theorie des Himmels.
der unendlichen Räume, mit Welten ohne Zahl und
ohne Ende, zu beleben. Man kan von ihr dasjeni-
ge sagen, was der erhabenste unter den deutschen
Dichtern von der Ewigkeit schreibet:
Unendlichkeit! wer misset dich?
Vor dir sind Welten Tag, und Menschen
Augenblicke;

Vielleicht die tausendste der Sonnen welzt
jetzt sich,

Und tausend bleiben noch zurücke.
Wie eine Uhr, beseelt durch ein Gewicht,
Eilt eine Sonn, aus GOttes Kraft bewegt:
Jhr Trieb läuft ab, und eine andre schlägt,
Du aber bleibst, und zählst sie nicht.

v. Haller.

Es ist ein nicht geringes Vergnügen, mit sei-
ner Einbildungskraft über die Grenze der vollendeten
Schöpfung, in den Raum des Chaos, auszu-
schweifen, und die halb rohe Natur, in der Naheit
zur Sphäre der ausgebildeten Welt, sich nach und
nach durch alle Stuffen und Schattirungen der Un-
vollkommenheit, in dem ganzen ungebildeten Rau-
me, verlieren zu sehen. Aber ist es nicht eine ta-
delnswürdige Kühnheit, wird man sagen, eine
Hypothese aufzuwerfen, und sie, als einen Vor-
wurf der Ergötzung des Verstandes, anzupreisen,
welche vielleicht nur gar zu willkührlich ist, wenn
man behauptet, daß die Natur, nur einem unend-
lich kleinen Theile nach, ausgebildet sey, und un-
endliche Räume noch mit dem Chaos streiten, um

in
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und Theorie des Himmels.
der unendlichen Raͤume, mit Welten ohne Zahl und
ohne Ende, zu beleben. Man kan von ihr dasjeni-
ge ſagen, was der erhabenſte unter den deutſchen
Dichtern von der Ewigkeit ſchreibet:
Unendlichkeit! wer miſſet dich?
Vor dir ſind Welten Tag, und Menſchen
Augenblicke;

Vielleicht die tauſendſte der Sonnen welzt
jetzt ſich,

Und tauſend bleiben noch zuruͤcke.
Wie eine Uhr, beſeelt durch ein Gewicht,
Eilt eine Sonn, aus GOttes Kraft bewegt:
Jhr Trieb laͤuft ab, und eine andre ſchlaͤgt,
Du aber bleibſt, und zaͤhlſt ſie nicht.

v. Haller.

Es iſt ein nicht geringes Vergnuͤgen, mit ſei-
ner Einbildungskraft uͤber die Grenze der vollendeten
Schoͤpfung, in den Raum des Chaos, auszu-
ſchweifen, und die halb rohe Natur, in der Naheit
zur Sphaͤre der ausgebildeten Welt, ſich nach und
nach durch alle Stuffen und Schattirungen der Un-
vollkommenheit, in dem ganzen ungebildeten Rau-
me, verlieren zu ſehen. Aber iſt es nicht eine ta-
delnswuͤrdige Kuͤhnheit, wird man ſagen, eine
Hypotheſe aufzuwerfen, und ſie, als einen Vor-
wurf der Ergoͤtzung des Verſtandes, anzupreiſen,
welche vielleicht nur gar zu willkuͤhrlich iſt, wenn
man behauptet, daß die Natur, nur einem unend-
lich kleinen Theile nach, ausgebildet ſey, und un-
endliche Raͤume noch mit dem Chaos ſtreiten, um

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[115/0183] und Theorie des Himmels. der unendlichen Raͤume, mit Welten ohne Zahl und ohne Ende, zu beleben. Man kan von ihr dasjeni- ge ſagen, was der erhabenſte unter den deutſchen Dichtern von der Ewigkeit ſchreibet: Unendlichkeit! wer miſſet dich? Vor dir ſind Welten Tag, und Menſchen Augenblicke; Vielleicht die tauſendſte der Sonnen welzt jetzt ſich, Und tauſend bleiben noch zuruͤcke. Wie eine Uhr, beſeelt durch ein Gewicht, Eilt eine Sonn, aus GOttes Kraft bewegt: Jhr Trieb laͤuft ab, und eine andre ſchlaͤgt, Du aber bleibſt, und zaͤhlſt ſie nicht. v. Haller. Es iſt ein nicht geringes Vergnuͤgen, mit ſei- ner Einbildungskraft uͤber die Grenze der vollendeten Schoͤpfung, in den Raum des Chaos, auszu- ſchweifen, und die halb rohe Natur, in der Naheit zur Sphaͤre der ausgebildeten Welt, ſich nach und nach durch alle Stuffen und Schattirungen der Un- vollkommenheit, in dem ganzen ungebildeten Rau- me, verlieren zu ſehen. Aber iſt es nicht eine ta- delnswuͤrdige Kuͤhnheit, wird man ſagen, eine Hypotheſe aufzuwerfen, und ſie, als einen Vor- wurf der Ergoͤtzung des Verſtandes, anzupreiſen, welche vielleicht nur gar zu willkuͤhrlich iſt, wenn man behauptet, daß die Natur, nur einem unend- lich kleinen Theile nach, ausgebildet ſey, und un- endliche Raͤume noch mit dem Chaos ſtreiten, um in H 2

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Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels. Königsberg u. a., 1755, S. 115. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_naturgeschichte_1755/183>, abgerufen am 27.04.2024.