Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kafka, Franz: Das Urteil. Leipzig, 1913.

Bild:
<< vorherige Seite

und las die Zeitung, die er seitlich vor die Augen hielt, wodurch er irgendeine Augenschwäche auszugleichen suchte. Auf dem Tisch standen die Reste des Frühstücks, von dem nicht viel verzehrt zu sein schien.

"Ah, Georg!" sagte der Vater und ging ihm gleich entgegen. Sein schwerer Schlafrock öffnete sich im Gehen, die Enden umflatterten ihn -- "mein Vater ist noch immer ein Riese", sagte sich Georg.

"Hier ist es ja unerträglich dunkel", sagte er dann.

"Ja, dunkel ist es schon", antwortete der Vater.

"Das Fenster hast du auch geschlossen?"

"Ich habe es lieber so."

"Es ist ja ganz warm draußen", sagte Georg, wie im Nachhang zu dem Früheren, und setzte sich.

Der Vater räumte das Frühstücksgeschirr ab und stellte es auf einen Kasten.

"Ich wollte dir eigentlich nur sagen," fuhr Georg fort, der den Bewegungen des alten Mannes ganz verloren folgte, "daß ich nun doch nach Petersburg meine Verlobung angezeigt habe." Er zog den Brief ein wenig aus der Tasche und ließ ihn wieder zurückfallen.

"Wieso nach Petersburg?" fragte der Vater.

"Meinem Freunde doch", sagte Georg und suchte des Vaters Augen. -- "Im Geschäft ist er doch ganz anders," dachte er, "wie er hier breit sitzt und die Arme über der Brust kreuzt."

"Ja. Deinem Freunde", sagte der Vater mit Betonung.

"Du weißt doch, Vater, daß ich ihm meine Verlobung zuerst verschweigen wollte. Aus Rücksichtnahme, aus keinem anderen Grunde sonst. Du weißt selbst, er ist ein schwieriger Mensch. Ich sagte mir, von anderer Seite kann er von meiner Verlobung wohl erfahren, wenn das auch bei seiner einsamen Lebensweise kaum wahrscheinlich ist -- das kann ich nicht hindern --, aber von mir selbst soll er es nun einmal nicht erfahren."

und las die Zeitung, die er seitlich vor die Augen hielt, wodurch er irgendeine Augenschwäche auszugleichen suchte. Auf dem Tisch standen die Reste des Frühstücks, von dem nicht viel verzehrt zu sein schien.

„Ah, Georg!“ sagte der Vater und ging ihm gleich entgegen. Sein schwerer Schlafrock öffnete sich im Gehen, die Enden umflatterten ihn — „mein Vater ist noch immer ein Riese“, sagte sich Georg.

„Hier ist es ja unerträglich dunkel“, sagte er dann.

„Ja, dunkel ist es schon“, antwortete der Vater.

„Das Fenster hast du auch geschlossen?“

„Ich habe es lieber so.“

„Es ist ja ganz warm draußen“, sagte Georg, wie im Nachhang zu dem Früheren, und setzte sich.

Der Vater räumte das Frühstücksgeschirr ab und stellte es auf einen Kasten.

„Ich wollte dir eigentlich nur sagen,“ fuhr Georg fort, der den Bewegungen des alten Mannes ganz verloren folgte, „daß ich nun doch nach Petersburg meine Verlobung angezeigt habe.“ Er zog den Brief ein wenig aus der Tasche und ließ ihn wieder zurückfallen.

„Wieso nach Petersburg?“ fragte der Vater.

„Meinem Freunde doch“, sagte Georg und suchte des Vaters Augen. — „Im Geschäft ist er doch ganz anders,“ dachte er, „wie er hier breit sitzt und die Arme über der Brust kreuzt.“

„Ja. Deinem Freunde“, sagte der Vater mit Betonung.

„Du weißt doch, Vater, daß ich ihm meine Verlobung zuerst verschweigen wollte. Aus Rücksichtnahme, aus keinem anderen Grunde sonst. Du weißt selbst, er ist ein schwieriger Mensch. Ich sagte mir, von anderer Seite kann er von meiner Verlobung wohl erfahren, wenn das auch bei seiner einsamen Lebensweise kaum wahrscheinlich ist — das kann ich nicht hindern —, aber von mir selbst soll er es nun einmal nicht erfahren.“

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0006" n="58"/>
und las die Zeitung, die er seitlich vor die Augen hielt, wodurch er irgendeine Augenschwäche auszugleichen suchte. Auf dem Tisch standen die Reste des Frühstücks, von dem nicht viel verzehrt zu sein schien.</p>
        <p>&#x201E;Ah, Georg!&#x201C; sagte der Vater und ging ihm gleich entgegen. Sein schwerer Schlafrock öffnete sich im Gehen, die Enden umflatterten ihn &#x2014; &#x201E;mein Vater ist noch immer ein Riese&#x201C;, sagte sich Georg.</p>
        <p>&#x201E;Hier ist es ja unerträglich dunkel&#x201C;, sagte er dann.</p>
        <p>&#x201E;Ja, dunkel ist es schon&#x201C;, antwortete der Vater.</p>
        <p>&#x201E;Das Fenster hast du auch geschlossen?&#x201C;</p>
        <p>&#x201E;Ich habe es lieber so.&#x201C;</p>
        <p>&#x201E;Es ist ja ganz warm draußen&#x201C;, sagte Georg, wie im Nachhang zu dem Früheren, und setzte sich.</p>
        <p>Der Vater räumte das Frühstücksgeschirr ab und stellte es auf einen Kasten.</p>
        <p>&#x201E;Ich wollte dir eigentlich nur sagen,&#x201C; fuhr Georg fort, der den Bewegungen des alten Mannes ganz verloren folgte, &#x201E;daß ich nun doch nach Petersburg meine Verlobung angezeigt habe.&#x201C; Er zog den Brief ein wenig aus der Tasche und ließ ihn wieder zurückfallen.</p>
        <p>&#x201E;Wieso nach Petersburg?&#x201C; fragte der Vater.</p>
        <p>&#x201E;Meinem Freunde doch&#x201C;, sagte Georg und suchte des Vaters Augen. &#x2014; &#x201E;Im Geschäft ist er doch ganz anders,&#x201C; dachte er, &#x201E;wie er hier breit sitzt und die Arme über der Brust kreuzt.&#x201C;</p>
        <p>&#x201E;Ja. Deinem Freunde&#x201C;, sagte der Vater mit Betonung.</p>
        <p>&#x201E;Du weißt doch, Vater, daß ich ihm meine Verlobung zuerst verschweigen wollte. Aus Rücksichtnahme, aus keinem anderen Grunde sonst. Du weißt selbst, er ist ein schwieriger Mensch. Ich sagte mir, von anderer Seite kann er von meiner Verlobung wohl erfahren, wenn das auch bei seiner einsamen Lebensweise kaum wahrscheinlich ist &#x2014; das kann ich nicht hindern &#x2014;, aber von mir selbst soll er es nun einmal nicht erfahren.&#x201C;</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[58/0006] und las die Zeitung, die er seitlich vor die Augen hielt, wodurch er irgendeine Augenschwäche auszugleichen suchte. Auf dem Tisch standen die Reste des Frühstücks, von dem nicht viel verzehrt zu sein schien. „Ah, Georg!“ sagte der Vater und ging ihm gleich entgegen. Sein schwerer Schlafrock öffnete sich im Gehen, die Enden umflatterten ihn — „mein Vater ist noch immer ein Riese“, sagte sich Georg. „Hier ist es ja unerträglich dunkel“, sagte er dann. „Ja, dunkel ist es schon“, antwortete der Vater. „Das Fenster hast du auch geschlossen?“ „Ich habe es lieber so.“ „Es ist ja ganz warm draußen“, sagte Georg, wie im Nachhang zu dem Früheren, und setzte sich. Der Vater räumte das Frühstücksgeschirr ab und stellte es auf einen Kasten. „Ich wollte dir eigentlich nur sagen,“ fuhr Georg fort, der den Bewegungen des alten Mannes ganz verloren folgte, „daß ich nun doch nach Petersburg meine Verlobung angezeigt habe.“ Er zog den Brief ein wenig aus der Tasche und ließ ihn wieder zurückfallen. „Wieso nach Petersburg?“ fragte der Vater. „Meinem Freunde doch“, sagte Georg und suchte des Vaters Augen. — „Im Geschäft ist er doch ganz anders,“ dachte er, „wie er hier breit sitzt und die Arme über der Brust kreuzt.“ „Ja. Deinem Freunde“, sagte der Vater mit Betonung. „Du weißt doch, Vater, daß ich ihm meine Verlobung zuerst verschweigen wollte. Aus Rücksichtnahme, aus keinem anderen Grunde sonst. Du weißt selbst, er ist ein schwieriger Mensch. Ich sagte mir, von anderer Seite kann er von meiner Verlobung wohl erfahren, wenn das auch bei seiner einsamen Lebensweise kaum wahrscheinlich ist — das kann ich nicht hindern —, aber von mir selbst soll er es nun einmal nicht erfahren.“

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2012-12-03T15:54:31Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Wikimedia Commons: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-12-03T15:54:31Z)
Frederike Neuber: Konvertierung von Wikisource-Markup nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2012-12-03T15:54:31Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kafka_urteil_1913
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kafka_urteil_1913/6
Zitationshilfe: Kafka, Franz: Das Urteil. Leipzig, 1913, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kafka_urteil_1913/6>, abgerufen am 23.04.2024.