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Justi, Carl: Diego Velazquez und sein Jahrhundert. Bd. 2. Bonn, 1888.

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Siebentes Buch.
Der Raum hat Aehnlichkeit mit einer Kapelle; an ein Arbeits-
zimmer schliesst sich eine kleine durch zwei Stufen erhöhte,
überwölbte Zelle, eine Art viereckiger Apsis. Hier, im Hin-
tergrund ist eine Tapisserie an zwei Wänden gegenüber dem
Eingang und dem Fenster aufgehängt, zu ihr haben sich drei
Damen hinaufbemüht. Den Haupttheil des Gemäldes bildet je-
doch der Vordersaal mit fünf Weibern, welche mit der Zuberei-
tung der Wolle beschäftigt sind.

Die "Spinnerinnen" sind eigentlich ein Doppelbild. Jeder
Theil würde ein Gemälde für sich geben können. Ein breiter,
halbdunkler plebejischer Theil, und ein stralender, erhöhter,
aristokratischer, wie Parterre und Bühne. Auf den ersten Blick
könnte man das Hintergrundsbild für eine Theaterscene halten.
Die Tapete würde dann die Episode eines mythologischen Dra-
mas vorstellen, die Damen das ausgewählte Publikum, welches
auf der Bühne Platz genommen hat; auch die Instrumentalmusik
der Zwischenakte fehlt nicht ganz; man sieht einen Contrebass
als Abschieber dastehn, angelehnt an einen barocken Sessel.

In der Anordnung glaubt man freie Nachklänge venezia-
nischer Studien zu erkennen. Die kreuzweis gestellten Contra-
poste der vor- und zurückgelehnten Figuren mit ihren starkver-
kürzten Köpfen; das Sonnenlicht von der Fensterseite auf die
Frauenköpfe fallend; selbst die Art wie die zweite kleine Scene
in einem abgeschlossenen Raum hinter der Hauptscene angebracht
ist, das sind dem Freunde Tintoretto's wolbekannte Motive.

Sonst wüsste ich für die Erfindung keine Analogie; man
sieht aber bald, dass sie in demselben Kopfe sich zusammen-
gefunden hat, der die Meninas erdachte. Auch hier ist ein Bild
im Bilde, um das sich die Handlung dreht, mittelbar und un-
mittelbar. Nur wenn das Gemälde dort, wo alle Personen
hintereinander vor den unsichtbaren Majestäten Front machen,
etwas vom Tableau bekam, so scheint der Maler hier darauf
ausgewesen zu versuchen, wie weit wohl der Schein des Zu-
fälligen, der Schein der Beseitigung des Apparats der Kunst
gehen könne. Hier ahnt keine der handelnden Personen, dass ein
Künstler ihr auflauert. Die Gruppen könnten in einer Augen-
blicksphotographie nicht zufälliger aussehn; auch sind es, wie
meist im Leben, lauter Nebenpersonen ohne Hauptperson (a novel
without a hero
).

Der Schwerpunkt aber liegt in der Darstellung des Lichts.
Der eigentliche Gegenstand dieses Gemäldes ist das Licht; die

Siebentes Buch.
Der Raum hat Aehnlichkeit mit einer Kapelle; an ein Arbeits-
zimmer schliesst sich eine kleine durch zwei Stufen erhöhte,
überwölbte Zelle, eine Art viereckiger Apsis. Hier, im Hin-
tergrund ist eine Tapisserie an zwei Wänden gegenüber dem
Eingang und dem Fenster aufgehängt, zu ihr haben sich drei
Damen hinaufbemüht. Den Haupttheil des Gemäldes bildet je-
doch der Vordersaal mit fünf Weibern, welche mit der Zuberei-
tung der Wolle beschäftigt sind.

Die „Spinnerinnen“ sind eigentlich ein Doppelbild. Jeder
Theil würde ein Gemälde für sich geben können. Ein breiter,
halbdunkler plebejischer Theil, und ein stralender, erhöhter,
aristokratischer, wie Parterre und Bühne. Auf den ersten Blick
könnte man das Hintergrundsbild für eine Theaterscene halten.
Die Tapete würde dann die Episode eines mythologischen Dra-
mas vorstellen, die Damen das ausgewählte Publikum, welches
auf der Bühne Platz genommen hat; auch die Instrumentalmusik
der Zwischenakte fehlt nicht ganz; man sieht einen Contrebass
als Abschieber dastehn, angelehnt an einen barocken Sessel.

In der Anordnung glaubt man freie Nachklänge venezia-
nischer Studien zu erkennen. Die kreuzweis gestellten Contra-
poste der vor- und zurückgelehnten Figuren mit ihren starkver-
kürzten Köpfen; das Sonnenlicht von der Fensterseite auf die
Frauenköpfe fallend; selbst die Art wie die zweite kleine Scene
in einem abgeschlossenen Raum hinter der Hauptscene angebracht
ist, das sind dem Freunde Tintoretto’s wolbekannte Motive.

Sonst wüsste ich für die Erfindung keine Analogie; man
sieht aber bald, dass sie in demselben Kopfe sich zusammen-
gefunden hat, der die Meninas erdachte. Auch hier ist ein Bild
im Bilde, um das sich die Handlung dreht, mittelbar und un-
mittelbar. Nur wenn das Gemälde dort, wo alle Personen
hintereinander vor den unsichtbaren Majestäten Front machen,
etwas vom Tableau bekam, so scheint der Maler hier darauf
ausgewesen zu versuchen, wie weit wohl der Schein des Zu-
fälligen, der Schein der Beseitigung des Apparats der Kunst
gehen könne. Hier ahnt keine der handelnden Personen, dass ein
Künstler ihr auflauert. Die Gruppen könnten in einer Augen-
blicksphotographie nicht zufälliger aussehn; auch sind es, wie
meist im Leben, lauter Nebenpersonen ohne Hauptperson (a novel
without a hero
).

Der Schwerpunkt aber liegt in der Darstellung des Lichts.
Der eigentliche Gegenstand dieses Gemäldes ist das Licht; die

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[328/0350] Siebentes Buch. Der Raum hat Aehnlichkeit mit einer Kapelle; an ein Arbeits- zimmer schliesst sich eine kleine durch zwei Stufen erhöhte, überwölbte Zelle, eine Art viereckiger Apsis. Hier, im Hin- tergrund ist eine Tapisserie an zwei Wänden gegenüber dem Eingang und dem Fenster aufgehängt, zu ihr haben sich drei Damen hinaufbemüht. Den Haupttheil des Gemäldes bildet je- doch der Vordersaal mit fünf Weibern, welche mit der Zuberei- tung der Wolle beschäftigt sind. Die „Spinnerinnen“ sind eigentlich ein Doppelbild. Jeder Theil würde ein Gemälde für sich geben können. Ein breiter, halbdunkler plebejischer Theil, und ein stralender, erhöhter, aristokratischer, wie Parterre und Bühne. Auf den ersten Blick könnte man das Hintergrundsbild für eine Theaterscene halten. Die Tapete würde dann die Episode eines mythologischen Dra- mas vorstellen, die Damen das ausgewählte Publikum, welches auf der Bühne Platz genommen hat; auch die Instrumentalmusik der Zwischenakte fehlt nicht ganz; man sieht einen Contrebass als Abschieber dastehn, angelehnt an einen barocken Sessel. In der Anordnung glaubt man freie Nachklänge venezia- nischer Studien zu erkennen. Die kreuzweis gestellten Contra- poste der vor- und zurückgelehnten Figuren mit ihren starkver- kürzten Köpfen; das Sonnenlicht von der Fensterseite auf die Frauenköpfe fallend; selbst die Art wie die zweite kleine Scene in einem abgeschlossenen Raum hinter der Hauptscene angebracht ist, das sind dem Freunde Tintoretto’s wolbekannte Motive. Sonst wüsste ich für die Erfindung keine Analogie; man sieht aber bald, dass sie in demselben Kopfe sich zusammen- gefunden hat, der die Meninas erdachte. Auch hier ist ein Bild im Bilde, um das sich die Handlung dreht, mittelbar und un- mittelbar. Nur wenn das Gemälde dort, wo alle Personen hintereinander vor den unsichtbaren Majestäten Front machen, etwas vom Tableau bekam, so scheint der Maler hier darauf ausgewesen zu versuchen, wie weit wohl der Schein des Zu- fälligen, der Schein der Beseitigung des Apparats der Kunst gehen könne. Hier ahnt keine der handelnden Personen, dass ein Künstler ihr auflauert. Die Gruppen könnten in einer Augen- blicksphotographie nicht zufälliger aussehn; auch sind es, wie meist im Leben, lauter Nebenpersonen ohne Hauptperson (a novel without a hero). Der Schwerpunkt aber liegt in der Darstellung des Lichts. Der eigentliche Gegenstand dieses Gemäldes ist das Licht; die

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Zitationshilfe: Justi, Carl: Diego Velazquez und sein Jahrhundert. Bd. 2. Bonn, 1888, S. 328. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/justi_velazquez02_1888/350>, abgerufen am 28.03.2024.