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Justi, Carl: Diego Velazquez und sein Jahrhundert. Bd. 1. Bonn, 1888.

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Murillo in Madrid.
lichkeit eines van Dyck! wie verschieden sein romanischer Takt
für Form und Maass von den Ausschweifungen des Rubens in
Formen, Geberden und Farben!

Von diesen zwei nachträglichen Lehrjahren in der Haupt-
stadt hat er also grade das Gegentheil dessen was sonst üblich
war mitgebracht: die Abschüttelung alles Conventionellen. Eine
Reinigungskur von Manier sind sie ihm gewesen. Darauf beruht
der Erfolg jenes claustro chico, dessen Scenen man noch heute
für ganz autochthon ansprechen möchte1). Was den Sevillanern
darin merkwürdig schien, war die ganz neue Unbefangenheit,
mit der hier Figuren und Physiognomien, die Jedermann ver-
traut waren, in der Legende auftraten, die Leichtigkeit der Hand,
welche diese Mönchsgeschichten hingeschrieben, und die das Nie-
gesehene und Unmögliche so wahrscheinlich erzählte wie das
was man täglich auf der Strasse sah. Sie sagten, bis auf Murillo
habe man dort nicht gewusst was Malen sei.

Später hat er freilich noch etwas höhere Melodien erklingen
lassen. Da kam der Geist des Lichts über ihn und der Qualm
der düstern Manier zerstob. Aber seinen besondern Reiz, seinen
Welterfolg auch in den gefeiertsten Schöpfungen späterer Jahr-
zehnte verdankte er jener naturalistischen Krisis in Madrid unter
der Führung des Velazquez.

Die Freude an der Gestaltung auch des Geringsten giebt
selbst den vornehmsten Stoffen das unversiegliche Interesse
fürs Auge. Wo die Sichtbarkeit nichts ist als die nun einmal
unvermeidliche "Sprache" für den Gedanken, die Erscheinung,
zu der sich der Geist von der Höhe seiner Ideen, wenn auch
noch so gefällig, herablässt, da wird die Malerei immer mit
Langeweile in der Wurzel behaftet bleiben.

Und ferner, das Evangelium ist zwar griechisch verfasst,
aber es klang einst seinen Lesern nicht wie griechisch. Indem
Murillo wie Rembrandt in die Schichten des Volks sich begab,
wo auch die heilige Geschichte gespielt hat, übersetzte er Bibel
und Akten der Heiligen in den Volksdialekt. Die Personen des
Neuen Testaments waren keine Götter und Helden; er entdeckte
dass das spanische Bauernkind besser die Himmelskönigin im
Mysterium, im Auto spiele als die grossen Tragödinnen Italiens.


1) Cean, der Verehrer des Mengs, hat selbst hier die Spuren von van Dyck,
Ribera, Velazquez herausgefunden! Darauf baut Ch. Blanc an seinem Schreibtisch
die Behauptung, es sei hier nur ein "eclecticisme heureux" zu erkennen.

Murillo in Madrid.
lichkeit eines van Dyck! wie verschieden sein romanischer Takt
für Form und Maass von den Ausschweifungen des Rubens in
Formen, Geberden und Farben!

Von diesen zwei nachträglichen Lehrjahren in der Haupt-
stadt hat er also grade das Gegentheil dessen was sonst üblich
war mitgebracht: die Abschüttelung alles Conventionellen. Eine
Reinigungskur von Manier sind sie ihm gewesen. Darauf beruht
der Erfolg jenes claustro chico, dessen Scenen man noch heute
für ganz autochthon ansprechen möchte1). Was den Sevillanern
darin merkwürdig schien, war die ganz neue Unbefangenheit,
mit der hier Figuren und Physiognomien, die Jedermann ver-
traut waren, in der Legende auftraten, die Leichtigkeit der Hand,
welche diese Mönchsgeschichten hingeschrieben, und die das Nie-
gesehene und Unmögliche so wahrscheinlich erzählte wie das
was man täglich auf der Strasse sah. Sie sagten, bis auf Murillo
habe man dort nicht gewusst was Malen sei.

Später hat er freilich noch etwas höhere Melodien erklingen
lassen. Da kam der Geist des Lichts über ihn und der Qualm
der düstern Manier zerstob. Aber seinen besondern Reiz, seinen
Welterfolg auch in den gefeiertsten Schöpfungen späterer Jahr-
zehnte verdankte er jener naturalistischen Krisis in Madrid unter
der Führung des Velazquez.

Die Freude an der Gestaltung auch des Geringsten giebt
selbst den vornehmsten Stoffen das unversiegliche Interesse
fürs Auge. Wo die Sichtbarkeit nichts ist als die nun einmal
unvermeidliche „Sprache“ für den Gedanken, die Erscheinung,
zu der sich der Geist von der Höhe seiner Ideen, wenn auch
noch so gefällig, herablässt, da wird die Malerei immer mit
Langeweile in der Wurzel behaftet bleiben.

Und ferner, das Evangelium ist zwar griechisch verfasst,
aber es klang einst seinen Lesern nicht wie griechisch. Indem
Murillo wie Rembrandt in die Schichten des Volks sich begab,
wo auch die heilige Geschichte gespielt hat, übersetzte er Bibel
und Akten der Heiligen in den Volksdialekt. Die Personen des
Neuen Testaments waren keine Götter und Helden; er entdeckte
dass das spanische Bauernkind besser die Himmelskönigin im
Mysterium, im Auto spiele als die grossen Tragödinnen Italiens.


1) Cean, der Verehrer des Mengs, hat selbst hier die Spuren von van Dyck,
Ribera, Velazquez herausgefunden! Darauf baut Ch. Blanc an seinem Schreibtisch
die Behauptung, es sei hier nur ein „éclecticisme heureux“ zu erkennen.
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[413/0441] Murillo in Madrid. lichkeit eines van Dyck! wie verschieden sein romanischer Takt für Form und Maass von den Ausschweifungen des Rubens in Formen, Geberden und Farben! Von diesen zwei nachträglichen Lehrjahren in der Haupt- stadt hat er also grade das Gegentheil dessen was sonst üblich war mitgebracht: die Abschüttelung alles Conventionellen. Eine Reinigungskur von Manier sind sie ihm gewesen. Darauf beruht der Erfolg jenes claustro chico, dessen Scenen man noch heute für ganz autochthon ansprechen möchte 1). Was den Sevillanern darin merkwürdig schien, war die ganz neue Unbefangenheit, mit der hier Figuren und Physiognomien, die Jedermann ver- traut waren, in der Legende auftraten, die Leichtigkeit der Hand, welche diese Mönchsgeschichten hingeschrieben, und die das Nie- gesehene und Unmögliche so wahrscheinlich erzählte wie das was man täglich auf der Strasse sah. Sie sagten, bis auf Murillo habe man dort nicht gewusst was Malen sei. Später hat er freilich noch etwas höhere Melodien erklingen lassen. Da kam der Geist des Lichts über ihn und der Qualm der düstern Manier zerstob. Aber seinen besondern Reiz, seinen Welterfolg auch in den gefeiertsten Schöpfungen späterer Jahr- zehnte verdankte er jener naturalistischen Krisis in Madrid unter der Führung des Velazquez. Die Freude an der Gestaltung auch des Geringsten giebt selbst den vornehmsten Stoffen das unversiegliche Interesse fürs Auge. Wo die Sichtbarkeit nichts ist als die nun einmal unvermeidliche „Sprache“ für den Gedanken, die Erscheinung, zu der sich der Geist von der Höhe seiner Ideen, wenn auch noch so gefällig, herablässt, da wird die Malerei immer mit Langeweile in der Wurzel behaftet bleiben. Und ferner, das Evangelium ist zwar griechisch verfasst, aber es klang einst seinen Lesern nicht wie griechisch. Indem Murillo wie Rembrandt in die Schichten des Volks sich begab, wo auch die heilige Geschichte gespielt hat, übersetzte er Bibel und Akten der Heiligen in den Volksdialekt. Die Personen des Neuen Testaments waren keine Götter und Helden; er entdeckte dass das spanische Bauernkind besser die Himmelskönigin im Mysterium, im Auto spiele als die grossen Tragödinnen Italiens. 1) Cean, der Verehrer des Mengs, hat selbst hier die Spuren von van Dyck, Ribera, Velazquez herausgefunden! Darauf baut Ch. Blanc an seinem Schreibtisch die Behauptung, es sei hier nur ein „éclecticisme heureux“ zu erkennen.

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Zitationshilfe: Justi, Carl: Diego Velazquez und sein Jahrhundert. Bd. 1. Bonn, 1888, S. 413. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/justi_velazquez01_1888/441>, abgerufen am 23.11.2024.