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Justi, Carl: Diego Velazquez und sein Jahrhundert. Bd. 1. Bonn, 1888.

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Die Borrachos.
dem faden Bacchanal des Cavalier Massimo mit seinen reizlosen
neapolitanischen Tänzerinnen im Madrider Museum, oder aus den
Schemen des Nicolaus Poussin in ihrem Basreliefmarsch. Obwol
dieser gelegentlich einen trunkenen Silen gemalt hat, der dem
Ribera'schen die Palme der Gemeinheit streitig macht 1). Neuer-
dings hat man Bacchanale gemalt, die archäologischen Dissertatio-
nen an Erudition gleichkommen: wir erinnern uns eines gesehen
zu haben, wo sich die Melancholiker eines vornehmen Irrenhauses
ein Fest zu geben schienen. Aber Scenen, die den Menschen in
Zusammenhang mit seinem materiellen Boden und dessen Gaben
zeigen, mit dem "Erdgeist", wie der alte Vilmar sagte, können
nicht genug Lokalgeschmack haben. Besonders dürfen wir ihn
beglückwünschen, dass er uns mit jenen bocksbeinigen Scheu-
salen verschont hat, die sich seit der Renaissance wie ein Schwarm
apokalyptischen Ungeziefers über die Gefilde der drei Künste
ergossen haben. Trotzdem ist dieses Bacchanal, das manche
eine Parodie genannt haben, griechischer vielleicht als der Maler
selbst gewusst hat. Die Griechen haben den Werth alter Trun-
kenbolde stets gewürdigt. In den tanzenden Satyrn der Villa
Borghese und des Lateran haben wir dieselben groben Knochen,
eckigen Schädel, kleinen Augen, starken Backenknochen und
kurzen Borstenhaare. Wenn die Jugend ("Trunkenheit ohne Wein!")
mit dem Stempel der Trunksucht widerlich ist, so liegt in der Wein-
seligkeit dieser Greise der tiefsinnige Humor des lachenden
Philosophen. Nur ist hier alles aus dem prestissimo des helleni-
schen Komus in das lento spanischen Phlegmas übersetzt. Die
Sprünge und Drehungen jener Satyre des Myron gleichen denen
des wilden Stiers; das träge Behagen unserer Küfer dem Treiben
eines Rudels Sauen in sumpfiger Waldschlucht. --

Obwol die Ceremonie unter freiem Tageshimmel vor sich
geht, ist sie doch in Atelierlicht gesetzt. Sie scheinen in einer

1) Prado Nr. 2052. Spagnoletto ist, nach dem Datum seines berühmten Ge-
mäldes im Museum zu Neapel, dort zwei Jahre vor dem Landsmann in Madrid auf
seinen Silen gekommen. Eigentlich ist dieser Silen nicht "abscheulicher" als der
griechische. Um Ribera in solchen Darstellungen zu beurtheilen, müsste man seinen
grossen "Triumphzug des Bacchus" besitzen, der sich noch im Anfang des acht-
zehnten Jahrhunderts im Schloss zu Madrid befand. Er war 12 castilische Fuss
lang und 71/2 hoch. Fragmente des im Brand des Schlosses stark mitgenommenen Werks
waren in Buen Retiro (1772), darunter der Kopf des lorbeerbekränzten Gottes und
"drei todte Köpfe" auf einen weissgedeckten Tisch. Zwei andere Fragmente, die soge-
nannte Sibylle und der Bacchuspriester sind noch im Pradomuseum (1011 u. 12).

Die Borrachos.
dem faden Bacchanal des Cavalier Massimo mit seinen reizlosen
neapolitanischen Tänzerinnen im Madrider Museum, oder aus den
Schemen des Nicolaus Poussin in ihrem Basreliefmarsch. Obwol
dieser gelegentlich einen trunkenen Silen gemalt hat, der dem
Ribera’schen die Palme der Gemeinheit streitig macht 1). Neuer-
dings hat man Bacchanale gemalt, die archäologischen Dissertatio-
nen an Erudition gleichkommen: wir erinnern uns eines gesehen
zu haben, wo sich die Melancholiker eines vornehmen Irrenhauses
ein Fest zu geben schienen. Aber Scenen, die den Menschen in
Zusammenhang mit seinem materiellen Boden und dessen Gaben
zeigen, mit dem „Erdgeist“, wie der alte Vilmar sagte, können
nicht genug Lokalgeschmack haben. Besonders dürfen wir ihn
beglückwünschen, dass er uns mit jenen bocksbeinigen Scheu-
salen verschont hat, die sich seit der Renaissance wie ein Schwarm
apokalyptischen Ungeziefers über die Gefilde der drei Künste
ergossen haben. Trotzdem ist dieses Bacchanal, das manche
eine Parodie genannt haben, griechischer vielleicht als der Maler
selbst gewusst hat. Die Griechen haben den Werth alter Trun-
kenbolde stets gewürdigt. In den tanzenden Satyrn der Villa
Borghese und des Lateran haben wir dieselben groben Knochen,
eckigen Schädel, kleinen Augen, starken Backenknochen und
kurzen Borstenhaare. Wenn die Jugend („Trunkenheit ohne Wein!“)
mit dem Stempel der Trunksucht widerlich ist, so liegt in der Wein-
seligkeit dieser Greise der tiefsinnige Humor des lachenden
Philosophen. Nur ist hier alles aus dem prestissimo des helleni-
schen Komus in das lento spanischen Phlegmas übersetzt. Die
Sprünge und Drehungen jener Satyre des Myron gleichen denen
des wilden Stiers; das träge Behagen unserer Küfer dem Treiben
eines Rudels Sauen in sumpfiger Waldschlucht. —

Obwol die Ceremonie unter freiem Tageshimmel vor sich
geht, ist sie doch in Atelierlicht gesetzt. Sie scheinen in einer

1) Prado Nr. 2052. Spagnoletto ist, nach dem Datum seines berühmten Ge-
mäldes im Museum zu Neapel, dort zwei Jahre vor dem Landsmann in Madrid auf
seinen Silen gekommen. Eigentlich ist dieser Silen nicht „abscheulicher“ als der
griechische. Um Ribera in solchen Darstellungen zu beurtheilen, müsste man seinen
grossen „Triumphzug des Bacchus“ besitzen, der sich noch im Anfang des acht-
zehnten Jahrhunderts im Schloss zu Madrid befand. Er war 12 castilische Fuss
lang und 7½ hoch. Fragmente des im Brand des Schlosses stark mitgenommenen Werks
waren in Buen Retiro (1772), darunter der Kopf des lorbeerbekränzten Gottes und
„drei todte Köpfe“ auf einen weissgedeckten Tisch. Zwei andere Fragmente, die soge-
nannte Sibylle und der Bacchuspriester sind noch im Pradomuseum (1011 u. 12).
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[259/0285] Die Borrachos. dem faden Bacchanal des Cavalier Massimo mit seinen reizlosen neapolitanischen Tänzerinnen im Madrider Museum, oder aus den Schemen des Nicolaus Poussin in ihrem Basreliefmarsch. Obwol dieser gelegentlich einen trunkenen Silen gemalt hat, der dem Ribera’schen die Palme der Gemeinheit streitig macht 1). Neuer- dings hat man Bacchanale gemalt, die archäologischen Dissertatio- nen an Erudition gleichkommen: wir erinnern uns eines gesehen zu haben, wo sich die Melancholiker eines vornehmen Irrenhauses ein Fest zu geben schienen. Aber Scenen, die den Menschen in Zusammenhang mit seinem materiellen Boden und dessen Gaben zeigen, mit dem „Erdgeist“, wie der alte Vilmar sagte, können nicht genug Lokalgeschmack haben. Besonders dürfen wir ihn beglückwünschen, dass er uns mit jenen bocksbeinigen Scheu- salen verschont hat, die sich seit der Renaissance wie ein Schwarm apokalyptischen Ungeziefers über die Gefilde der drei Künste ergossen haben. Trotzdem ist dieses Bacchanal, das manche eine Parodie genannt haben, griechischer vielleicht als der Maler selbst gewusst hat. Die Griechen haben den Werth alter Trun- kenbolde stets gewürdigt. In den tanzenden Satyrn der Villa Borghese und des Lateran haben wir dieselben groben Knochen, eckigen Schädel, kleinen Augen, starken Backenknochen und kurzen Borstenhaare. Wenn die Jugend („Trunkenheit ohne Wein!“) mit dem Stempel der Trunksucht widerlich ist, so liegt in der Wein- seligkeit dieser Greise der tiefsinnige Humor des lachenden Philosophen. Nur ist hier alles aus dem prestissimo des helleni- schen Komus in das lento spanischen Phlegmas übersetzt. Die Sprünge und Drehungen jener Satyre des Myron gleichen denen des wilden Stiers; das träge Behagen unserer Küfer dem Treiben eines Rudels Sauen in sumpfiger Waldschlucht. — Obwol die Ceremonie unter freiem Tageshimmel vor sich geht, ist sie doch in Atelierlicht gesetzt. Sie scheinen in einer 1) Prado Nr. 2052. Spagnoletto ist, nach dem Datum seines berühmten Ge- mäldes im Museum zu Neapel, dort zwei Jahre vor dem Landsmann in Madrid auf seinen Silen gekommen. Eigentlich ist dieser Silen nicht „abscheulicher“ als der griechische. Um Ribera in solchen Darstellungen zu beurtheilen, müsste man seinen grossen „Triumphzug des Bacchus“ besitzen, der sich noch im Anfang des acht- zehnten Jahrhunderts im Schloss zu Madrid befand. Er war 12 castilische Fuss lang und 7½ hoch. Fragmente des im Brand des Schlosses stark mitgenommenen Werks waren in Buen Retiro (1772), darunter der Kopf des lorbeerbekränzten Gottes und „drei todte Köpfe“ auf einen weissgedeckten Tisch. Zwei andere Fragmente, die soge- nannte Sibylle und der Bacchuspriester sind noch im Pradomuseum (1011 u. 12).

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Zitationshilfe: Justi, Carl: Diego Velazquez und sein Jahrhundert. Bd. 1. Bonn, 1888, S. 259. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/justi_velazquez01_1888/285>, abgerufen am 16.07.2024.