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Justi, Carl: Diego Velazquez und sein Jahrhundert. Bd. 1. Bonn, 1888.

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Die Stadt Madrid.
hatte, nahm unter seinem Sohn die Bauthätigkeit einen fieber-
haften Aufschwung. Die Fremden strömten herzu, vielstöckige
Häuser mit Balkons an allen Fenstern erhoben sich, deren In-
sassen sich nicht kannten; man sagte, hier sei eine Wand von
der andren weiter entfernt als Valladolid von Gent, und wer
Morgens ausgehe, erkenne Abends seine Strasse und sein Haus
nicht wieder 1). In ähnlichen Hyperbeln schildern die Dichter
die Raschlebigkeit: Frauen, Häuser und Trachten verwandeln
sich vor unsern Augen; und es giebt nichts dauerndes hier als
den Wechsel. "Der grosse Mann der, kaum todt, Abends fort-
gefahren wird, ist morgen vergessen, und Niemand hat Zeit
deinem Sarg eine Erdscholle nachzuwerfen 2)". Es versteht sich,
dass die Damen das alles himmlisch fanden. Calderon lässt es
uns sagen durch seine Eugenia: ihr ist der Staub, Koth und
das Wagengerassel der Madrider Gassen theurer als der duftigste
Blumengarten 3).

Ungeachtet der Charakterlosigkeit der baulichen Physio-
gnomie des modernen Madrid, das z. B. keine bemerkenswerthe
Kirche besitzt, mit Ausnahme von S. Geronimo (dessen Abbruch
neuerdings mit Mühe verhindert wurde), und dessen banale
Strassen an die Nichtigkeit französischer Provinzialstädte erinnern,
hatte die spanische Hauptstadt im siebzehnten Jahrhundert einen
besonderen Reiz: ihren kosmopolitischen Zug.

Was dem Ankömmling zuerst auffiel, war in der Kapitale
dieser streitbaren Monarchie eine ganz offene Stadt zu finden,
ohne Mauern, Thore und Gräben. Die Mauern mit den 130
Thürmen waren bei der Erweiterung nach und nach weggebrochen
worden oder zerfallen. Daher vergleicht Gongora die Stadt mit
dem Nil, wie dieser keine Ufer für seine Gewässer, so leidet
Madrid keine Mauern für seine Häuserexpansion 4). Madrid war
damals noch ein Mittelpunkt der europäischen grossen Politik.

1) En Madrid Partos y Medos viven una casa misma, sin saber unos de otros.
Calderon, No hay cosa como callar. Esta una pared aqui de la otra mas distante
que Valladolid de Gante. Tirso, La celosa de si misma.
2) Como se vive de prisa, no te has de espantar, si vieres metamorfosear
mugeres, caras y ropas. a. a. O. Calderon, Los empennos de un acaso III. Lope, Al
pasar del arroyo
III. En M., sin ser Jordan, las mas viejas (casas) se remozan.
Tirso, La celosa.
3) Guardate de la agua mansa I.
4) Nilo no sufre margenes: ni muros Madrid. Sonetos heroicos 28.

Die Stadt Madrid.
hatte, nahm unter seinem Sohn die Bauthätigkeit einen fieber-
haften Aufschwung. Die Fremden strömten herzu, vielstöckige
Häuser mit Balkons an allen Fenstern erhoben sich, deren In-
sassen sich nicht kannten; man sagte, hier sei eine Wand von
der andren weiter entfernt als Valladolid von Gent, und wer
Morgens ausgehe, erkenne Abends seine Strasse und sein Haus
nicht wieder 1). In ähnlichen Hyperbeln schildern die Dichter
die Raschlebigkeit: Frauen, Häuser und Trachten verwandeln
sich vor unsern Augen; und es giebt nichts dauerndes hier als
den Wechsel. „Der grosse Mann der, kaum todt, Abends fort-
gefahren wird, ist morgen vergessen, und Niemand hat Zeit
deinem Sarg eine Erdscholle nachzuwerfen 2)“. Es versteht sich,
dass die Damen das alles himmlisch fanden. Calderon lässt es
uns sagen durch seine Eugenia: ihr ist der Staub, Koth und
das Wagengerassel der Madrider Gassen theurer als der duftigste
Blumengarten 3).

Ungeachtet der Charakterlosigkeit der baulichen Physio-
gnomie des modernen Madrid, das z. B. keine bemerkenswerthe
Kirche besitzt, mit Ausnahme von S. Gerónimo (dessen Abbruch
neuerdings mit Mühe verhindert wurde), und dessen banale
Strassen an die Nichtigkeit französischer Provinzialstädte erinnern,
hatte die spanische Hauptstadt im siebzehnten Jahrhundert einen
besonderen Reiz: ihren kosmopolitischen Zug.

Was dem Ankömmling zuerst auffiel, war in der Kapitale
dieser streitbaren Monarchie eine ganz offene Stadt zu finden,
ohne Mauern, Thore und Gräben. Die Mauern mit den 130
Thürmen waren bei der Erweiterung nach und nach weggebrochen
worden oder zerfallen. Daher vergleicht Gongora die Stadt mit
dem Nil, wie dieser keine Ufer für seine Gewässer, so leidet
Madrid keine Mauern für seine Häuserexpansion 4). Madrid war
damals noch ein Mittelpunkt der europäischen grossen Politik.

1) En Madrid Partos y Medos viven una casa misma, sin saber unos de otros.
Calderon, No hay cosa como callar. Está una pared aquí de la otra mas distante
que Valladolid de Gante. Tirso, La celosa de sí misma.
2) Como se vive de prisa, no te has de espantar, si vieres metamorfosear
mugeres, caras y ropas. a. a. O. Calderon, Los empeños de un acaso III. Lope, Al
pasar del arroyo
III. En M., sin ser Jordan, las mas viejas (casas) se remozan.
Tirso, La celosa.
3) Guárdate de la agua mansa I.
4) Nilo no sufre márgenes: ni muros Madrid. Sonetos heróicos 28.
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[171/0191] Die Stadt Madrid. hatte, nahm unter seinem Sohn die Bauthätigkeit einen fieber- haften Aufschwung. Die Fremden strömten herzu, vielstöckige Häuser mit Balkons an allen Fenstern erhoben sich, deren In- sassen sich nicht kannten; man sagte, hier sei eine Wand von der andren weiter entfernt als Valladolid von Gent, und wer Morgens ausgehe, erkenne Abends seine Strasse und sein Haus nicht wieder 1). In ähnlichen Hyperbeln schildern die Dichter die Raschlebigkeit: Frauen, Häuser und Trachten verwandeln sich vor unsern Augen; und es giebt nichts dauerndes hier als den Wechsel. „Der grosse Mann der, kaum todt, Abends fort- gefahren wird, ist morgen vergessen, und Niemand hat Zeit deinem Sarg eine Erdscholle nachzuwerfen 2)“. Es versteht sich, dass die Damen das alles himmlisch fanden. Calderon lässt es uns sagen durch seine Eugenia: ihr ist der Staub, Koth und das Wagengerassel der Madrider Gassen theurer als der duftigste Blumengarten 3). Ungeachtet der Charakterlosigkeit der baulichen Physio- gnomie des modernen Madrid, das z. B. keine bemerkenswerthe Kirche besitzt, mit Ausnahme von S. Gerónimo (dessen Abbruch neuerdings mit Mühe verhindert wurde), und dessen banale Strassen an die Nichtigkeit französischer Provinzialstädte erinnern, hatte die spanische Hauptstadt im siebzehnten Jahrhundert einen besonderen Reiz: ihren kosmopolitischen Zug. Was dem Ankömmling zuerst auffiel, war in der Kapitale dieser streitbaren Monarchie eine ganz offene Stadt zu finden, ohne Mauern, Thore und Gräben. Die Mauern mit den 130 Thürmen waren bei der Erweiterung nach und nach weggebrochen worden oder zerfallen. Daher vergleicht Gongora die Stadt mit dem Nil, wie dieser keine Ufer für seine Gewässer, so leidet Madrid keine Mauern für seine Häuserexpansion 4). Madrid war damals noch ein Mittelpunkt der europäischen grossen Politik. 1) En Madrid Partos y Medos viven una casa misma, sin saber unos de otros. Calderon, No hay cosa como callar. Está una pared aquí de la otra mas distante que Valladolid de Gante. Tirso, La celosa de sí misma. 2) Como se vive de prisa, no te has de espantar, si vieres metamorfosear mugeres, caras y ropas. a. a. O. Calderon, Los empeños de un acaso III. Lope, Al pasar del arroyo III. En M., sin ser Jordan, las mas viejas (casas) se remozan. Tirso, La celosa. 3) Guárdate de la agua mansa I. 4) Nilo no sufre márgenes: ni muros Madrid. Sonetos heróicos 28.

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Zitationshilfe: Justi, Carl: Diego Velazquez und sein Jahrhundert. Bd. 1. Bonn, 1888, S. 171. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/justi_velazquez01_1888/191>, abgerufen am 25.11.2024.