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Justi, Carl: Diego Velazquez und sein Jahrhundert. Bd. 1. Bonn, 1888.

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Zweites Buch.
genden ein Erbe latenter Kräfte, fortbildungsbedürftiger Formen,
beunruhigender Fragen. Deshalb ist die Unähnlichkeit von Künst-
lern zweier Menschenalter an demselben Ort bei engem Zusam-
menhang erheblich grösser, als der Unterschied gleichzeitiger an
verschiedenen Orten bei völliger Unbekanntschaft. Schüler sehen
Lehrern, unter deren Dach sie jahrelang gearbeitet, sobald sie
sich auf eigene Füsse stellen, sehr unähnlich; Meister derselben
Epoche aus verschiedenen Nationen, die nie von einander gehört,
sehen einander oft zum Verwechseln ähnlich. So hat man (um
bei dem nächstliegenden zu bleiben) die Werke des Velazquez
zuweilen Rubens getauft; und umgekehrt Sustermans, Daniel
Crespi, Strozzi, F. Voet, Snayers u. a. Velazquez genannt; die
Aehnlichkeit seiner Bildnisse mit Terborch, selbst Anklänge an
Franz Hals und andre Holländer ist bemerkt worden; aber noch
nie ist ein Sanchez Coello, Greco, Roelas und Herrera mit Velaz-
quez verwechselt worden, der unter ihren Werken aufwuchs.
Doch selbst wo eine wirkliche Berührung nachzuweisen wäre, ist
damit noch nicht gesagt, dass der eine durch den andern zu dem
gemacht worden ist, was er ist.

Diese Bedeutung der Zeit bemerkt man ebenso bei der
Masse wie bei den hervorragenden Geistern, nur dass jene ihr
unterliegt, diese sie schaffen und beherrschen. Das Neue reisst
die Menge hin; Eitelkeit, Leerheit haben stets den Instinkt der
neuesten Mode. Die Natur braucht aber auch einige Wenige, um
Neues aufs Tapet zu bringen und von ausgefahrenen Bahnen abzu-
lenken. Diese stattet sie sich besonders aus und vergisst nicht,
ihnen jene starkgefügte Persönlichkeit, jene Initiative zu geben,
welche sie vom Zufall (über den sie nicht Herr ist) soviel als
möglich unabhängig macht. Diese Kraft der Initiative ist was
man Genie nennt. Das sind die Menschen, welche wegen ihrer
grossen, auf ihrer Person beruhenden Wirkung allein eine beson-
dere Geschichte verdienen.

Dieses Genie ist also nicht erworben, nicht durch ein glück-
liches Zusammentreffen äusserer Umstände hervorgebracht. Wo-
mit noch nicht gesagt ist, dass es etwas Uebernatürliches sei,
nicht einmal, dass es sich von den übrigen qualitativ und nicht
bloss gradweise unterscheidet. Aber wie selbst das blosse Ta-
lent auch ohne alle äussere Aufmunterung, ja in der leersten und
feindseligsten Umgebung sich Bahn bricht, so werden dem Genie
Lehrer und Vorbilder seine Richtung weder geben noch es
ablenken von seinem vorherbestimmten Ziel. Wenn es auch in

Zweites Buch.
genden ein Erbe latenter Kräfte, fortbildungsbedürftiger Formen,
beunruhigender Fragen. Deshalb ist die Unähnlichkeit von Künst-
lern zweier Menschenalter an demselben Ort bei engem Zusam-
menhang erheblich grösser, als der Unterschied gleichzeitiger an
verschiedenen Orten bei völliger Unbekanntschaft. Schüler sehen
Lehrern, unter deren Dach sie jahrelang gearbeitet, sobald sie
sich auf eigene Füsse stellen, sehr unähnlich; Meister derselben
Epoche aus verschiedenen Nationen, die nie von einander gehört,
sehen einander oft zum Verwechseln ähnlich. So hat man (um
bei dem nächstliegenden zu bleiben) die Werke des Velazquez
zuweilen Rubens getauft; und umgekehrt Sustermans, Daniel
Crespi, Strozzi, F. Voet, Snayers u. a. Velazquez genannt; die
Aehnlichkeit seiner Bildnisse mit Terborch, selbst Anklänge an
Franz Hals und andre Holländer ist bemerkt worden; aber noch
nie ist ein Sanchez Coello, Greco, Roelas und Herrera mit Velaz-
quez verwechselt worden, der unter ihren Werken aufwuchs.
Doch selbst wo eine wirkliche Berührung nachzuweisen wäre, ist
damit noch nicht gesagt, dass der eine durch den andern zu dem
gemacht worden ist, was er ist.

Diese Bedeutung der Zeit bemerkt man ebenso bei der
Masse wie bei den hervorragenden Geistern, nur dass jene ihr
unterliegt, diese sie schaffen und beherrschen. Das Neue reisst
die Menge hin; Eitelkeit, Leerheit haben stets den Instinkt der
neuesten Mode. Die Natur braucht aber auch einige Wenige, um
Neues aufs Tapet zu bringen und von ausgefahrenen Bahnen abzu-
lenken. Diese stattet sie sich besonders aus und vergisst nicht,
ihnen jene starkgefügte Persönlichkeit, jene Initiative zu geben,
welche sie vom Zufall (über den sie nicht Herr ist) soviel als
möglich unabhängig macht. Diese Kraft der Initiative ist was
man Genie nennt. Das sind die Menschen, welche wegen ihrer
grossen, auf ihrer Person beruhenden Wirkung allein eine beson-
dere Geschichte verdienen.

Dieses Genie ist also nicht erworben, nicht durch ein glück-
liches Zusammentreffen äusserer Umstände hervorgebracht. Wo-
mit noch nicht gesagt ist, dass es etwas Uebernatürliches sei,
nicht einmal, dass es sich von den übrigen qualitativ und nicht
bloss gradweise unterscheidet. Aber wie selbst das blosse Ta-
lent auch ohne alle äussere Aufmunterung, ja in der leersten und
feindseligsten Umgebung sich Bahn bricht, so werden dem Genie
Lehrer und Vorbilder seine Richtung weder geben noch es
ablenken von seinem vorherbestimmten Ziel. Wenn es auch in

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[122/0142] Zweites Buch. genden ein Erbe latenter Kräfte, fortbildungsbedürftiger Formen, beunruhigender Fragen. Deshalb ist die Unähnlichkeit von Künst- lern zweier Menschenalter an demselben Ort bei engem Zusam- menhang erheblich grösser, als der Unterschied gleichzeitiger an verschiedenen Orten bei völliger Unbekanntschaft. Schüler sehen Lehrern, unter deren Dach sie jahrelang gearbeitet, sobald sie sich auf eigene Füsse stellen, sehr unähnlich; Meister derselben Epoche aus verschiedenen Nationen, die nie von einander gehört, sehen einander oft zum Verwechseln ähnlich. So hat man (um bei dem nächstliegenden zu bleiben) die Werke des Velazquez zuweilen Rubens getauft; und umgekehrt Sustermans, Daniel Crespi, Strozzi, F. Voet, Snayers u. a. Velazquez genannt; die Aehnlichkeit seiner Bildnisse mit Terborch, selbst Anklänge an Franz Hals und andre Holländer ist bemerkt worden; aber noch nie ist ein Sanchez Coello, Greco, Roelas und Herrera mit Velaz- quez verwechselt worden, der unter ihren Werken aufwuchs. Doch selbst wo eine wirkliche Berührung nachzuweisen wäre, ist damit noch nicht gesagt, dass der eine durch den andern zu dem gemacht worden ist, was er ist. Diese Bedeutung der Zeit bemerkt man ebenso bei der Masse wie bei den hervorragenden Geistern, nur dass jene ihr unterliegt, diese sie schaffen und beherrschen. Das Neue reisst die Menge hin; Eitelkeit, Leerheit haben stets den Instinkt der neuesten Mode. Die Natur braucht aber auch einige Wenige, um Neues aufs Tapet zu bringen und von ausgefahrenen Bahnen abzu- lenken. Diese stattet sie sich besonders aus und vergisst nicht, ihnen jene starkgefügte Persönlichkeit, jene Initiative zu geben, welche sie vom Zufall (über den sie nicht Herr ist) soviel als möglich unabhängig macht. Diese Kraft der Initiative ist was man Genie nennt. Das sind die Menschen, welche wegen ihrer grossen, auf ihrer Person beruhenden Wirkung allein eine beson- dere Geschichte verdienen. Dieses Genie ist also nicht erworben, nicht durch ein glück- liches Zusammentreffen äusserer Umstände hervorgebracht. Wo- mit noch nicht gesagt ist, dass es etwas Uebernatürliches sei, nicht einmal, dass es sich von den übrigen qualitativ und nicht bloss gradweise unterscheidet. Aber wie selbst das blosse Ta- lent auch ohne alle äussere Aufmunterung, ja in der leersten und feindseligsten Umgebung sich Bahn bricht, so werden dem Genie Lehrer und Vorbilder seine Richtung weder geben noch es ablenken von seinem vorherbestimmten Ziel. Wenn es auch in

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Zitationshilfe: Justi, Carl: Diego Velazquez und sein Jahrhundert. Bd. 1. Bonn, 1888, S. 122. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/justi_velazquez01_1888/142>, abgerufen am 24.11.2024.