zum Einsiedler gemacht hatte, und daß er, da dieser erträgli- cher wurde, wieder Menschen sehen, wieder an einem Geschäfte Vergnügen finden konnte. Er legte sichs ganz anders aus. Er glaubte, jener heilige Trieb fange an bei ihm zu erkalten, und nahm daher mit Furcht und Zittern die Stelle an. Er bekleidete sie mit Treue und Eifer, und fing zuletzt an zu muth- maßen, daß es Gott nicht ungefällig seyn könnte, wenn er mit seinem Pfund wucherte, und seinem Nächsten zu dienen suchte.
Nun fing auch unser Heinrich an, in die lateinische Schule zu gehen. Man kann sich leicht vorstellen, was er für ein Aufsehen unter den andern Schulknaben machte. Er war bloß in Stillings Haus und Hof bekannt, und war noch nie unter Menschen gekommen; seine Reden waren immer un- gewöhnlich, und wenig Menschen verstanden, was er wollte; keine jugendlichen Spiele, wornach die Knaben so brünstig sind, rührten ihn, er ging vorbei und sah sie nicht. Der Schul- meister Weiland merkte seinen fähigen Kopf und großen Fleiß; daher ließ er ihn ungeplagt; und da er merkte, daß ihm das langweilige Auswendiglernen unmöglich war, so be- freite er ihn davon, und wirklich Heinrichs Methode, Latein zu lernen, war für ihn sehr vortheilhaft. Er nahm einen lateinischen Text vor sich, schlug die Worte im Lexicon auf, da fand er dann, was jedes für ein Theil der Rede sey; suchte ferner die Muster der Abweichungen in der Grammatik u. s. f. Durch diese Methode hatte sein Geist Nahrung in den besten lateinischen Schriftstellern, und die Sprache lernte er hinläng- lich schreiben, lesen und verstehen. Was aber sein größtes Vergnügen ausmachte, war eine kleine Bibliothek des Schul- meisters, die er Freiheit zu gebrauchen hatte. Sie bestand aus allerhand nützlichen Cöllnischen Schriften; vornehmlich: der Reinicke Fuchs mit vortrefflichen Holzschnitten, Kaiser Octavianus nebst seinem Weib und Söhnen; eine schöne Hi- storie von den vier Haymons-Kindern, Peter und Magelone; die schöne Melusine, und endlich der vortreffliche Hans Clauert. Sobald nun Nachmittags die Schule aus war, so machte er sich auf den Weg nach Tiefenbach und las eine solche Historie unter dem Gehen. Der Weg ging durch grüne
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zum Einſiedler gemacht hatte, und daß er, da dieſer ertraͤgli- cher wurde, wieder Menſchen ſehen, wieder an einem Geſchaͤfte Vergnuͤgen finden konnte. Er legte ſichs ganz anders aus. Er glaubte, jener heilige Trieb fange an bei ihm zu erkalten, und nahm daher mit Furcht und Zittern die Stelle an. Er bekleidete ſie mit Treue und Eifer, und fing zuletzt an zu muth- maßen, daß es Gott nicht ungefaͤllig ſeyn koͤnnte, wenn er mit ſeinem Pfund wucherte, und ſeinem Naͤchſten zu dienen ſuchte.
Nun fing auch unſer Heinrich an, in die lateiniſche Schule zu gehen. Man kann ſich leicht vorſtellen, was er fuͤr ein Aufſehen unter den andern Schulknaben machte. Er war bloß in Stillings Haus und Hof bekannt, und war noch nie unter Menſchen gekommen; ſeine Reden waren immer un- gewoͤhnlich, und wenig Menſchen verſtanden, was er wollte; keine jugendlichen Spiele, wornach die Knaben ſo bruͤnſtig ſind, ruͤhrten ihn, er ging vorbei und ſah ſie nicht. Der Schul- meiſter Weiland merkte ſeinen faͤhigen Kopf und großen Fleiß; daher ließ er ihn ungeplagt; und da er merkte, daß ihm das langweilige Auswendiglernen unmoͤglich war, ſo be- freite er ihn davon, und wirklich Heinrichs Methode, Latein zu lernen, war fuͤr ihn ſehr vortheilhaft. Er nahm einen lateiniſchen Text vor ſich, ſchlug die Worte im Lexicon auf, da fand er dann, was jedes fuͤr ein Theil der Rede ſey; ſuchte ferner die Muſter der Abweichungen in der Grammatik u. ſ. f. Durch dieſe Methode hatte ſein Geiſt Nahrung in den beſten lateiniſchen Schriftſtellern, und die Sprache lernte er hinlaͤng- lich ſchreiben, leſen und verſtehen. Was aber ſein groͤßtes Vergnuͤgen ausmachte, war eine kleine Bibliothek des Schul- meiſters, die er Freiheit zu gebrauchen hatte. Sie beſtand aus allerhand nuͤtzlichen Coͤllniſchen Schriften; vornehmlich: der Reinicke Fuchs mit vortrefflichen Holzſchnitten, Kaiſer Octavianus nebſt ſeinem Weib und Soͤhnen; eine ſchoͤne Hi- ſtorie von den vier Haymons-Kindern, Peter und Magelone; die ſchoͤne Meluſine, und endlich der vortreffliche Hans Clauert. Sobald nun Nachmittags die Schule aus war, ſo machte er ſich auf den Weg nach Tiefenbach und las eine ſolche Hiſtorie unter dem Gehen. Der Weg ging durch gruͤne
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zum Einſiedler gemacht hatte, und daß er, da dieſer ertraͤgli-
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Vergnuͤgen finden konnte. Er legte ſichs ganz anders aus.
Er glaubte, jener heilige Trieb fange an bei ihm zu erkalten,
und nahm daher mit Furcht und Zittern die Stelle an. Er
bekleidete ſie mit Treue und Eifer, und fing zuletzt an zu muth-
maßen, daß es Gott nicht ungefaͤllig ſeyn koͤnnte, wenn er mit
ſeinem Pfund wucherte, und ſeinem Naͤchſten zu dienen ſuchte.
Nun fing auch unſer Heinrich an, in die lateiniſche Schule
zu gehen. Man kann ſich leicht vorſtellen, was er fuͤr ein
Aufſehen unter den andern Schulknaben machte. Er war
bloß in Stillings Haus und Hof bekannt, und war noch
nie unter Menſchen gekommen; ſeine Reden waren immer un-
gewoͤhnlich, und wenig Menſchen verſtanden, was er wollte;
keine jugendlichen Spiele, wornach die Knaben ſo bruͤnſtig ſind,
ruͤhrten ihn, er ging vorbei und ſah ſie nicht. Der Schul-
meiſter Weiland merkte ſeinen faͤhigen Kopf und großen
Fleiß; daher ließ er ihn ungeplagt; und da er merkte, daß
ihm das langweilige Auswendiglernen unmoͤglich war, ſo be-
freite er ihn davon, und wirklich Heinrichs Methode, Latein
zu lernen, war fuͤr ihn ſehr vortheilhaft. Er nahm einen
lateiniſchen Text vor ſich, ſchlug die Worte im Lexicon auf,
da fand er dann, was jedes fuͤr ein Theil der Rede ſey; ſuchte
ferner die Muſter der Abweichungen in der Grammatik u. ſ. f.
Durch dieſe Methode hatte ſein Geiſt Nahrung in den beſten
lateiniſchen Schriftſtellern, und die Sprache lernte er hinlaͤng-
lich ſchreiben, leſen und verſtehen. Was aber ſein groͤßtes
Vergnuͤgen ausmachte, war eine kleine Bibliothek des Schul-
meiſters, die er Freiheit zu gebrauchen hatte. Sie beſtand
aus allerhand nuͤtzlichen Coͤllniſchen Schriften; vornehmlich:
der Reinicke Fuchs mit vortrefflichen Holzſchnitten, Kaiſer
Octavianus nebſt ſeinem Weib und Soͤhnen; eine ſchoͤne Hi-
ſtorie von den vier Haymons-Kindern, Peter und Magelone;
die ſchoͤne Meluſine, und endlich der vortreffliche Hans
Clauert. Sobald nun Nachmittags die Schule aus war,
ſo machte er ſich auf den Weg nach Tiefenbach und las eine
ſolche Hiſtorie unter dem Gehen. Der Weg ging durch gruͤne
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/91>, abgerufen am 24.11.2024.
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