Erziehung dieses Kindes beschaffen bis in's zehnte Jahr. Eines gehört noch hierzu. Wilhelm war sehr scharf; die mindeste Uebertretung seiner Befehle bestrafte er aufs schärfste mit der Ruthe. Daher kam zu obigen Grundlagen eine gewisse Schüch- ternheit in des jungen Stillings Seele, und aus Furcht vor den Züchtigungen suchte er seine Fehler zu verhehlen und zu verdecken, so daß er sich nach und nach zum Lügen verleiten ließ; eine Neigung, die ihm zum Ueberwinden bis in sein zwanzigstes Jahr viele Mühe gemacht hat. Wilhelms Ab- sicht war, seinen Sohn beugsam und gehorsam zu erziehen, um ihn zu Haltung göttlicher und menschlicher Gesetze fähig zu machen: und eine gewissenhafte Strenge führe, däuchte ihn, den nächsten Weg zum Zwecke: und da konnte er gar nicht begreifen, woher es doch käme, daß seine Seligkeit, die er an den schönen Eigenschaften seines Jungen genoß, durch das Laster der Lügen, auf welchem er ihn oft ertappte, so häßlich versalzet würde. Er verdoppelte seine Strenge, besonders wo er eine Lüge gewahr wurde; allein er richtete dadurch weiter nichts aus, als daß Heinrich alle erdenkliche Kunstgriffe anwendete, seine Lügen wahrscheinlicher zu machen; und so wurde denn doch der gute Wilhelm betrogen. Sobald merkte der Knabe nicht, daß es ihm gelungen, so freute er sich und dankte noch wohl Gott, daß er ein Mittel gefunden, einem Strafgericht zu entgehen. Doch muß ich auch dieses zu seiner Ehrenrettung sagen: er log nicht, als nur dann, wann er Schläge damit abwenden konnte.
Der alte Stilling sah alles dieses ganz ruhig an. Die strenge Lebensart seines Sohnes beurtheilte er nie; lächelte aber wohl zuweilen und schüttelte die grauen Locken, wenn er sah, wie Wilhelm nach der Ruthe griff, weil der Knabe Etwas gegessen oder gethan hatte, das gegen seinen Befehl war. Dann sagte er auch wohl in Abwesenheit des Kindes: Wilhelm! wer nicht will, daß seine Gebote häu- fig übertreten werden, der muß nicht viel befeh- len. Alle Menschen lieben die Freiheit. -- Ja, sagte Wilhelm dann, so wird mir aber der Junge eigenwil- lig. Verbeut du ihm, erwiederte der Alte, seine Feh-
Erziehung dieſes Kindes beſchaffen bis in’s zehnte Jahr. Eines gehoͤrt noch hierzu. Wilhelm war ſehr ſcharf; die mindeſte Uebertretung ſeiner Befehle beſtrafte er aufs ſchaͤrfſte mit der Ruthe. Daher kam zu obigen Grundlagen eine gewiſſe Schuͤch- ternheit in des jungen Stillings Seele, und aus Furcht vor den Zuͤchtigungen ſuchte er ſeine Fehler zu verhehlen und zu verdecken, ſo daß er ſich nach und nach zum Luͤgen verleiten ließ; eine Neigung, die ihm zum Ueberwinden bis in ſein zwanzigſtes Jahr viele Muͤhe gemacht hat. Wilhelms Ab- ſicht war, ſeinen Sohn beugſam und gehorſam zu erziehen, um ihn zu Haltung goͤttlicher und menſchlicher Geſetze faͤhig zu machen: und eine gewiſſenhafte Strenge fuͤhre, daͤuchte ihn, den naͤchſten Weg zum Zwecke: und da konnte er gar nicht begreifen, woher es doch kaͤme, daß ſeine Seligkeit, die er an den ſchoͤnen Eigenſchaften ſeines Jungen genoß, durch das Laſter der Luͤgen, auf welchem er ihn oft ertappte, ſo haͤßlich verſalzet wuͤrde. Er verdoppelte ſeine Strenge, beſonders wo er eine Luͤge gewahr wurde; allein er richtete dadurch weiter nichts aus, als daß Heinrich alle erdenkliche Kunſtgriffe anwendete, ſeine Luͤgen wahrſcheinlicher zu machen; und ſo wurde denn doch der gute Wilhelm betrogen. Sobald merkte der Knabe nicht, daß es ihm gelungen, ſo freute er ſich und dankte noch wohl Gott, daß er ein Mittel gefunden, einem Strafgericht zu entgehen. Doch muß ich auch dieſes zu ſeiner Ehrenrettung ſagen: er log nicht, als nur dann, wann er Schlaͤge damit abwenden konnte.
Der alte Stilling ſah alles dieſes ganz ruhig an. Die ſtrenge Lebensart ſeines Sohnes beurtheilte er nie; laͤchelte aber wohl zuweilen und ſchuͤttelte die grauen Locken, wenn er ſah, wie Wilhelm nach der Ruthe griff, weil der Knabe Etwas gegeſſen oder gethan hatte, das gegen ſeinen Befehl war. Dann ſagte er auch wohl in Abweſenheit des Kindes: Wilhelm! wer nicht will, daß ſeine Gebote haͤu- fig uͤbertreten werden, der muß nicht viel befeh- len. Alle Menſchen lieben die Freiheit. — Ja, ſagte Wilhelm dann, ſo wird mir aber der Junge eigenwil- lig. Verbeut du ihm, erwiederte der Alte, ſeine Feh-
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Erziehung dieſes Kindes beſchaffen bis in’s zehnte Jahr. Eines
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Uebertretung ſeiner Befehle beſtrafte er aufs ſchaͤrfſte mit der
Ruthe. Daher kam zu obigen Grundlagen eine gewiſſe Schuͤch-
ternheit in des jungen Stillings Seele, und aus Furcht vor
den Zuͤchtigungen ſuchte er ſeine Fehler zu verhehlen und zu
verdecken, ſo daß er ſich nach und nach zum Luͤgen verleiten
ließ; eine Neigung, die ihm zum Ueberwinden bis in ſein
zwanzigſtes Jahr viele Muͤhe gemacht hat. Wilhelms Ab-
ſicht war, ſeinen Sohn beugſam und gehorſam zu erziehen,
um ihn zu Haltung goͤttlicher und menſchlicher Geſetze faͤhig
zu machen: und eine gewiſſenhafte Strenge fuͤhre, daͤuchte
ihn, den naͤchſten Weg zum Zwecke: und da konnte er gar nicht
begreifen, woher es doch kaͤme, daß ſeine Seligkeit, die er an
den ſchoͤnen Eigenſchaften ſeines Jungen genoß, durch das
Laſter der Luͤgen, auf welchem er ihn oft ertappte, ſo haͤßlich
verſalzet wuͤrde. Er verdoppelte ſeine Strenge, beſonders wo
er eine Luͤge gewahr wurde; allein er richtete dadurch weiter
nichts aus, als daß Heinrich alle erdenkliche Kunſtgriffe
anwendete, ſeine Luͤgen wahrſcheinlicher zu machen; und ſo
wurde denn doch der gute Wilhelm betrogen. Sobald merkte
der Knabe nicht, daß es ihm gelungen, ſo freute er ſich und
dankte noch wohl Gott, daß er ein Mittel gefunden, einem
Strafgericht zu entgehen. Doch muß ich auch dieſes zu ſeiner
Ehrenrettung ſagen: er log nicht, als nur dann, wann er
Schlaͤge damit abwenden konnte.
Der alte Stilling ſah alles dieſes ganz ruhig an. Die
ſtrenge Lebensart ſeines Sohnes beurtheilte er nie; laͤchelte
aber wohl zuweilen und ſchuͤttelte die grauen Locken, wenn er
ſah, wie Wilhelm nach der Ruthe griff, weil der Knabe
Etwas gegeſſen oder gethan hatte, das gegen ſeinen Befehl
war. Dann ſagte er auch wohl in Abweſenheit des Kindes:
Wilhelm! wer nicht will, daß ſeine Gebote haͤu-
fig uͤbertreten werden, der muß nicht viel befeh-
len. Alle Menſchen lieben die Freiheit. — Ja,
ſagte Wilhelm dann, ſo wird mir aber der Junge eigenwil-
lig. Verbeut du ihm, erwiederte der Alte, ſeine Feh-
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/76>, abgerufen am 24.11.2024.
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