Bald darauf an diesem Charmittwoch, den zweiten April, des Morgens gegen vier Uhr, als er fühlte, daß sein Ende heran- nahe und er hingehe zum Vater; -- als er sich zu einer letzten feierlichen Handlung stark genug wußte, versammelte er uns Alle um sich her, und nachdem er uns in seiner gewöhnlichen Güte gefragt, ob wir nichts gegen sein jetziges Vorhaben hätten, das h. Abendmahl mit uns zu halten, und nachdem ihm sein ältester Sohn die Bedenklichkeiten darüber benommen, zumal da in dieser nächtlichen Stunde nicht wohl der einzige Geistliche der reformirten Gemeinde zu Karlsruhe (damals war noch nirgends eine Evang. Kirchenvereinigung vollzogen), auch ein ehrwürdi- ger Greis, herzu gerufen werden konnte, und als er auch unser Wohlgefallen und unsern Dank für dieß sein patriarchalisches Unternehmen erfahren hatte, ließ er uns knieen, entblößte sein Haupt, faltete die Hände, und mit aller Kraft des Geistes und und des Glaubens, welche sich in seiner Stimme nochmals aus- drückte, betete er ohngefähr also: "Du, der du am Kreuze dein "Blut für uns gabst, und Tod und Hölle überwandest, der auch "da seinen Feinden verzieh, du göttlicher Versöhner! vergieb uns "auch jetzt, wenn wir uns unterwinden, hier Etwas vorzuneh- "men in unserer Schwachheit, was wir uns sonst nicht unter- "stehen würden!"
Alsbald nahm er den Teller, worauf er das Brod in Stücken gebrochen hatte, hielt zwei und zwei Finger kreuzweise darüber, sprach die gewöhnlichen Einsetzungsworte, und fuhr fort: "Und "du, o Herr, segne auch diese Speise!" Darauf sagte er: "Neh- "met hin, und esset, das ist sein Leib, der für unsere Sünden "in den Tod gegeben worden!"
Und somit nahmen wir, im Geiste ergriffen, von der hohen Würde des christlichen Greises, der noch auf dem Sterbebette mit den Seinigen den Bund der Liebe feierte, das heilige Mahl. Und nachdem er den Wunsch geäußert: "Wenn doch jetzt auch "unsere Heidelberger Kinder hier wären!" nahm er auch seinen gewöhnlichen Becher als Kelch, legte ebenfalls die Hände kreuz- weise darüber, dankete und sprach nach den Einsetzungsworten: "Trinket Alle daraus, das ist der Kelch des Neuen Testaments
Stillings sämmtl. Schriften. I. Band 42
Bald darauf an dieſem Charmittwoch, den zweiten April, des Morgens gegen vier Uhr, als er fuͤhlte, daß ſein Ende heran- nahe und er hingehe zum Vater; — als er ſich zu einer letzten feierlichen Handlung ſtark genug wußte, verſammelte er uns Alle um ſich her, und nachdem er uns in ſeiner gewoͤhnlichen Guͤte gefragt, ob wir nichts gegen ſein jetziges Vorhaben haͤtten, das h. Abendmahl mit uns zu halten, und nachdem ihm ſein aͤlteſter Sohn die Bedenklichkeiten daruͤber benommen, zumal da in dieſer naͤchtlichen Stunde nicht wohl der einzige Geiſtliche der reformirten Gemeinde zu Karlsruhe (damals war noch nirgends eine Evang. Kirchenvereinigung vollzogen), auch ein ehrwuͤrdi- ger Greis, herzu gerufen werden konnte, und als er auch unſer Wohlgefallen und unſern Dank fuͤr dieß ſein patriarchaliſches Unternehmen erfahren hatte, ließ er uns knieen, entbloͤßte ſein Haupt, faltete die Haͤnde, und mit aller Kraft des Geiſtes und und des Glaubens, welche ſich in ſeiner Stimme nochmals aus- druͤckte, betete er ohngefaͤhr alſo: „Du, der du am Kreuze dein „Blut fuͤr uns gabſt, und Tod und Hoͤlle uͤberwandeſt, der auch „da ſeinen Feinden verzieh, du goͤttlicher Verſoͤhner! vergieb uns „auch jetzt, wenn wir uns unterwinden, hier Etwas vorzuneh- „men in unſerer Schwachheit, was wir uns ſonſt nicht unter- „ſtehen wuͤrden!“
Alsbald nahm er den Teller, worauf er das Brod in Stuͤcken gebrochen hatte, hielt zwei und zwei Finger kreuzweiſe daruͤber, ſprach die gewoͤhnlichen Einſetzungsworte, und fuhr fort: „Und „du, o Herr, ſegne auch dieſe Speiſe!“ Darauf ſagte er: „Neh- „met hin, und eſſet, das iſt ſein Leib, der fuͤr unſere Suͤnden „in den Tod gegeben worden!“
Und ſomit nahmen wir, im Geiſte ergriffen, von der hohen Wuͤrde des chriſtlichen Greiſes, der noch auf dem Sterbebette mit den Seinigen den Bund der Liebe feierte, das heilige Mahl. Und nachdem er den Wunſch geaͤußert: „Wenn doch jetzt auch „unſere Heidelberger Kinder hier waͤren!“ nahm er auch ſeinen gewoͤhnlichen Becher als Kelch, legte ebenfalls die Haͤnde kreuz- weiſe daruͤber, dankete und ſprach nach den Einſetzungsworten: „Trinket Alle daraus, das iſt der Kelch des Neuen Teſtaments
Stillings ſämmtl. Schriften. I. Band 42
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Bald darauf an dieſem Charmittwoch, den zweiten April, des
Morgens gegen vier Uhr, als er fuͤhlte, daß ſein Ende heran-
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feierlichen Handlung ſtark genug wußte, verſammelte er uns
Alle um ſich her, und nachdem er uns in ſeiner gewoͤhnlichen
Guͤte gefragt, ob wir nichts gegen ſein jetziges Vorhaben haͤtten,
das h. Abendmahl mit uns zu halten, und nachdem ihm ſein
aͤlteſter Sohn die Bedenklichkeiten daruͤber benommen, zumal da
in dieſer naͤchtlichen Stunde nicht wohl der einzige Geiſtliche der
reformirten Gemeinde zu Karlsruhe (damals war noch nirgends
eine Evang. Kirchenvereinigung vollzogen), auch ein ehrwuͤrdi-
ger Greis, herzu gerufen werden konnte, und als er auch unſer
Wohlgefallen und unſern Dank fuͤr dieß ſein patriarchaliſches
Unternehmen erfahren hatte, ließ er uns knieen, entbloͤßte ſein
Haupt, faltete die Haͤnde, und mit aller Kraft des Geiſtes und
und des Glaubens, welche ſich in ſeiner Stimme nochmals aus-
druͤckte, betete er ohngefaͤhr alſo: „Du, der du am Kreuze dein
„Blut fuͤr uns gabſt, und Tod und Hoͤlle uͤberwandeſt, der auch
„da ſeinen Feinden verzieh, du goͤttlicher Verſoͤhner! vergieb uns
„auch jetzt, wenn wir uns unterwinden, hier Etwas vorzuneh-
„men in unſerer Schwachheit, was wir uns ſonſt nicht unter-
„ſtehen wuͤrden!“
Alsbald nahm er den Teller, worauf er das Brod in Stuͤcken
gebrochen hatte, hielt zwei und zwei Finger kreuzweiſe daruͤber,
ſprach die gewoͤhnlichen Einſetzungsworte, und fuhr fort: „Und
„du, o Herr, ſegne auch dieſe Speiſe!“ Darauf ſagte er: „Neh-
„met hin, und eſſet, das iſt ſein Leib, der fuͤr unſere Suͤnden
„in den Tod gegeben worden!“
Und ſomit nahmen wir, im Geiſte ergriffen, von der hohen
Wuͤrde des chriſtlichen Greiſes, der noch auf dem Sterbebette
mit den Seinigen den Bund der Liebe feierte, das heilige Mahl.
Und nachdem er den Wunſch geaͤußert: „Wenn doch jetzt auch
„unſere Heidelberger Kinder hier waͤren!“ nahm er auch ſeinen
gewoͤhnlichen Becher als Kelch, legte ebenfalls die Haͤnde kreuz-
weiſe daruͤber, dankete und ſprach nach den Einſetzungsworten:
„Trinket Alle daraus, das iſt der Kelch des Neuen Teſtaments
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 645. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/653>, abgerufen am 16.02.2025.
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